Der dritte und abschliessende Band von Gomperz‘ Geschichte der Antiken Philosophie ist Aristoteles und dessen unmittelbaren Folgen gewidmet. Von den Häuptern der peripatetischen Schule nach Aristoteles werden allerdings nur Theophrast und Stratos behandelt, bevor mit einem allgemeinen Kapitel über Sitte und Sinnesart des hellenistischen Zeitalters das Werk schliesst. Es folgen dann nur noch (allerdings sehr ausführliche) Verzeichnisse von Eigennamen, Stellen, Sachen usw.
Aristoteles muss für einen Philosophen bzw. Philosophiehistoriker des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein echtes Problem gewesen sein. Der Stagirite deckte praktisch das ganze Wissen und Können seiner Zeit ab, Ethik oder Metaphysik ebenso wie die Naturwissenschaft. Die Spezialisierung der nachfolgenden Jahrhunderte, die natürlich auch auf die Philosophiehistoriker übergegriffen hatte, machte nun, dass selbst bis heute unbestrittene Koryphäen wie Zeller oder Gomperz vielem bei Aristoteles doch einigermassen hilflos gegenüber stehen. Zeller behalf sich, indem er die naturwissenschaftlichen Texte einfach referierte, ohne weitere Gewichtung. Gomperz versucht zu gewichten, versucht, Aristoteles dem modernen Leser seiner Zeit verständlich und einordbar zu machen. Leider greift Gomperz immer zum selben Mittel, zu dem Mittel, zu dem er schon bei den vorsokratischen Naturphilosophen Leukipp und Demokrit gegriffen hat: Er nimmt die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der eigenen Zeit, v.a. die Theorie der Atome, zum Massstab. Wo immer er nun bei einem antiken Denker den Begriff „Atom“ zustimmend verwendet findet, erklärt er ihn zu einem Vorläufer der modernen Physik. Wer der Atomistik gegenüber negativ eingestellt war, riskierte Gomperz‘ Kritik. Aristoteles nun gar, dessen unbestreitbar grosser Einfluss auf das folgende Jahrtausend naturwissenschaftlichen Denkens sich nicht leugnen lässt, wird darob förmlich in der Luft zerrissen. Gomperz vernachlässigt dabei völlig die Tatsache, dass die antiken Atomistiker ja keine durch Versuchsanordnungen heuristisch nachvollziehbare Theorie geliefert hatten, sondern abstrakte, auf keinerlei Erfahrung basierende Denkmodelle – die Aristoteles selbstverständlich als solche kannte und erkannte, und denen er ebensolche, aber dem gesunden Menschenverstand einleuchtendere, entgegen setzte. Eine Verifizierung oder Falsifizierung dieser Denkmodelle (aka Theorien) ist selbstverständlich weder für die Vorsokratiker noch für Aristoteles je ein Thema gewesen, und dass die Physik des 19. Jahrhunderts den Begriff des „Atoms“ wieder aufgenommen hat, war ein philosophiehistorischer Irrtum, den man einem Physiker verzeihen kann – ein Philosophiehistoriker hätte den Unterschied zwischen dem antiken und dem modernen „Atom“ nicht nur bemerken, sondern sogar speziell fürs Publikum festhalten sollen.
Daneben behandelt Gomperz Themen wie Aristoteles‘ Seelenlehre (immer in Hinblick aufs Nūs und dessen Stellung im aristotelischen Kosmos), die Sittenlehre oder (sehr ausführlich und immer in Abgrenzung zu Platon) die Staatslehre. Bei diesen Themen macht sich, Gott sei Dank, Gomperz‘ Vorurteil zugunsten von Ansichten seiner eigenen Zeit nicht bemerkbar.
Bemerkbar macht sich dann allerdings, dass die Philosophen des ausgehenden 19. Jahrhunderts das Thema „Logik“ für de facto erledigt und uninteressant hielten. Aristoteles hatte dazu gesagt, was zu sagen war – meinte man. Was aber tatsächlich in den Köpfen hängen geblieben war, was man verstanden hatte, waren rein mechanische Regeln zur Formulierung von Schlüssen – die man entweder aus Missverstand metaphysisch anzuwenden versuchte oder als formalistischen und unnützen Ballast vernachlässigte. So erwähnt auch Gomperz mit keinem Wort den Logiker Aristoteles, der heute wohl hauptsächlich unsere Aufmerksamkeit fesselt.
Theophrast wird von Gomperz bedeutend ausführlicher und interessierter als behandelt als von Zeller. Das mag daran liegen, dass in der Zwischenzeit die Forschung Theophrasts Charaktere als echt anerkannt hatte. Daneben ist dem Wiener v.a. der Botaniker interessant – das einzige Gebiet, in dem Theophrast den Schulgründer Aristoteles zu überragen vermag (und sei es nur, weil Aristoteles‘ Schriften zu diesem Thema verloren gegangen sind).
Dass Straton noch ein letztes, eigenes Kapitel erhält, verdankt er wohl vor allem dem Umstand, dass seine naturphilosophischen Thesen in vielem wieder der antiken Atomistik zugewandt waren und in Bezug auf das Licht für Gomperz die Emissionstheorie vorwegnahm, die der Wiener bei Newton gefunden hatte.
Es liesse sich insgesamt über Gomperz‘ Philosophiegeschichte – sowohl diesen dritten Band, wie über Band 1 oder Band 2 – noch vieles sagen. Die Schilderungen des antiken Denkens sind meist sehr enthusiastisch, oft für meinen Geschmack allzu enthusiastisch geraten. Die eine oder andere Darstellung ist dann inhaltlich etwas platt, aber v.a. die antiken Atomistiker hat Gomperz mit Liebe und Detailkenntnis vorgestellt. Diese Details ihrerseits hier darzustellen, übersteigt meine aktuellen Möglichkeiten – aber die drei Aperçus über Gomperz‘ Geschichte der Antiken Philosophie sollen ja auch eine Anregung sein, diesen Text, der momentan leider nur antiquarisch erhältlich ist, selber zu lesen 😉 .