Vierte Auflage. Ausgabe letzter Hand herausgegeben von H. Gomperz. [1922 erschienen. Gelesen im Reprint des Eichborn-Verlags, o.J.]
Gomperz‘ Werk erschien zum ersten Mal in 3 Bänden zwischen 1897 und 1902, also parallel zu Zellers Philosophiegeschichte. Auch die Bandeinteilung ist offenbar so ziemlich dieselbe. Mit Band 1 haben wir demnach bei Gomperz wie bei Zeller die Vorsokratik vor uns.
Gomperz war Kakanier und lehrte an der Universität Wien. Seine Philosophiegeschichte hat seinerzeit allerdings im Deutschen Reich offenbar wenig Anklang gefunden. Der Klappentext meiner Ausgabe dazu: Antimetaphysisch, positivistisch, kritisch – alles Vorzüge eines mit Recht populären Werks und alles zugleich Attribute, die von den ontologischen und den hermeneutischen Schwerdenkern der deutschen Zunft nur mit negativen Vorzeichen verwendet wurden. Dem ist wenig hinzuzufügen: Was damals den Reichsdeutschen als Schwäche galt, hat sich ‚in the long run‘ als Stärke entpuppt und dazu geführt, dass Gomperz heute – zusammen mit Zeller – ein Klassiker der Geschichte der antiken, griechischen Philosophie geworden ist. (Zeller – und Nestle! – ist es im Übrigen zu Gute zu halten, dass sie selber Gomperz durchaus als ernst zu nehmenden Gesprächspartner und Forscherkollegen betrachteten. Gomperz und Zeller differieren manchmal in ihren Interpretationen, aber sie nehmen sich gegenseitig ernst.)
Allerdings ist Gomperz‘ Stil gewöhnungsbedürftig. Gomperz verwendet eine äusserst ‚blumichte‘ Sprache und verwendet gern Metaphern und Bilder, die wir heute in einem wissenschaftlichen Text vermeiden würden. Hinzu kommt, dass Gomperz in vielen Modellen oder Ideen der antiken Physik Forschungsergebnisse sehen will, die die der modernen (also: seiner) Zeit vorwegnehmen. Über 100 Jahre später irritiert das doch, so, wenn Gomperz die Vorläufer der gerade definitiv auslaufenden Theorie des alles durchdringenden Äthers schildert. Alles in allem will mir scheinen, dass, wenn Zeller hauptsächlich die Fachkollegen (Altphilologen und Philosophiegeschichtler) im Visier hatte, Gomperz an ein weiteres Publikum dachte: den interessierten Bildungsbürger im Allgemeinen. Auch nimmt Gomperz den Begriff des ‚Denkers‘ in einem recht weiten Sinn, und kann so die antiken Ärzte ebenso behandeln wie die Geschichtsschreiber, die Mystiker oder die Verfasser der klassischen griechischen Dramen.
Der vorliegende Band 1 umfasst drei grosse Abschnitte oder „Bücher“: Die Anfänge / Von der Metaphysik zur positiven Wissenschaft / Das Zeitalter der Aufklärung. Die „Anfänge„, das sind die alten Jonier, die Orphiker und die Pythagoräer. Die beiden letzteren Bewegungen stellt Gomperz immer zueinander, was verwirrt, weil sie nach heutigen Erkenntnissen weniger miteinander zu tun haben, als Gomperz dies annimmt. Es geht dem Autor aber ganz eindeutig darum, die Philosophiegeschichte als einen Weg zu beschreiben, der von der Mystik und Religion zwar ausgeht, aber von dort weg führt hin zu einer rationalen Betrachtung der Welt. Im zweiten Buch sind es dann die grossen Namen der Vorsokratik, die im Mittelpunkt stehen: Xenophanes, Parmenides, Anaxagoras und Empedokles. Da Gomperz im Gegensatz zu Zeller nicht davon ausgeht, dass der Geist oder das Nous eine grossartige neue Einsicht der antiken Denker gewesen sein müsse, platziert er auch Anaxagoras zeitlich vor Empedokles. Hierin ist die heutige Philosophiegeschichte Gomperz gefolgt.
Wirklich mit Liebe geschildert sind dann die „Aufklärer“: die Atomistiker (Demokrit, Epikur und Leukipp) und die frühen Sophisten Protagoras und Gorgias. Es ist verblüffend, wie Gomperz genau so wie Zeller die positiven Errungenschaften dieser beiden Denker herausstellt – und wie wenig bis heute im Denken auch der Gebildeten hängen geblieben ist, die nach wie vor die Sophisten als reine Eristiker, als reine Wortverdreher, rezipieren. Man sollte Gomperz und Zeller zur obligatorischen Lektüre in jedem Gymnasium erklären…
Alles in allem also der Gomperz äusserst lesenswert. Ich empfehle, so vorzugehen, wie ich es auch tue – nämlich Gomperz und Zeller parallel zu lesen. Oft kann der eine erhellen, was beim andern dunkel bleibt, und sie bleiben nahe genug einer Meinung, dass die kleinen Meinungsverschiedenheiten eher das Salz in der Suppe darstellen, als dass sie stören würden. Da bei diesen Meinungsverschiedenheiten nach heutiger Auffassung manchmal der eine, manchmal der andere Recht hat, ist eine Lektüre beider Texte m.M.n. sowieso unumgänglich.
____________
PS. Zum ersten Band von Zellers Philosophiegeschichte habe ich mich hier (Teil 1) und hier (Teil 2) geäussert.
Zeller hat meines Wissens schon in den 5oiger Jahren des 19. Jahrhunderts seine Philosophiegeschichte veröffentlicht (zu veröffentlichen begonnen) – also einige Zeit vor Gomperz …
lg – s.
Ja. Allerdings sind die 6. Auflage (was Band 1 betrifft), bzw. die 4. Auflage (Band 2 und 3), in etwa zur selben Zeit erschienen wie die ersten Auflagen von Gomperz‘ Werk. Und weil Zellers Neuauflagen nicht einfach photomechanische Reproduktionen sind, sondern der Autor immer die neuesten eigenen und fremden Forschungsergebinisse einarbeitet, nimmt er auch immer mal wieder Bezug auf die Griechischen Denker.