Über Heimito von Doderers „Die Dämonen“ liessen sich Bände füllen, sind wohl auch schon Bände gefüllt worden. Nun denn.
Doderer war 1959, zum Zeitpunkt des Erscheinens der „Dämonen“ wohl auf dem Höhepunkt seiner Sprachgewalt. Und so schildert er die im Grunde genommen belanglosen Ereignisse und kleinen Abenteuer einer Gruppe von Personen, die alle auf vielfältigste Weise zusammenhängen, deren Wege sich auf die merkwürdigsten Arten kreuzen und wieder trennen. Viele davon stellen mehr oder weniger ein Alter Ego Doderers dar, indem er sie mit Splittern seiner eigenen Interessen und/oder seines eigenen Lebenslaufs darstellt. Somit ist auch schon festgestellt, dass die zentralen Figuren alle aus dem Milieu des gehobenen Bürgertums und des Adels stammen.
Der Sektionsrat Geyrenhoff schildert im Rückblick aus den Fünfziger Jahren die Erlebnisse einer undefinierten und doch genau abgegrenzten Gruppe von „In-People“. Dabei helfen ihm einige deren Mitglieder, indem sie Teile beisteuern. (Diese Teile, von Heimito von Doderer selten als solche gekennzeichnet, zu identifizieren anhand von Sprache und Stil, ist eines der nicht geringen Vergnügen, das den Leser erwartet. Da so viel natürlicher eingeführt als in Joyce‘ „Ulysses“, ist es umso grösser.) Diese Erlebnisse findent statt vorwiegend in den Jahren 1926 und 1927. Sie kulminieren in der Revolte vom 15. Juli 1927. An diesem Tag erfüllt sich das Schicksal für so manchen der In-People, der „Unsrigen“, wie sie der Sektionsrat Geyrenhoff nennt. An diesem Tag erfüllt sich für Geyrenhoff (und wohl auch für Doderer) aber auch das Schicksal der Ersten Republik. Tatsächlich sollte ja die Juli-Revolte das politische Klima endgültig vergiften und zum Bürgerkrieg mitte der Dreissiger Jahre führen. Doch diese Entwicklung blendet Doderer aus. Mit den Ereignissen vom 15. Juli 1927 erreicht das Geschehen des Romans seinen Höhepunkt, danach fällt die Gruppe der „Unsrigen“ bereits wieder auseinander.
„Die Dämonen“ haben ihren Titel nicht umsonst von Dostojewskij genommen. Ähnlich wie beim Russen sind auch bei Doderer die Handelnden Getriebene oder Besessene. Keineswegs im klinischen Sinne, aber in dem Sinn, dass keine der Figuren ihre Handlungen oder ihre Motive so richtig lenken und durchschauen kann. Geyrenhoff, der sich zuerst als reiner Chronist der Gruppe versteht, am allerwenigsten. (Hierin vielleicht formal die grösste Ähnlichkeit zu Dostojewskijs Roman: Die detachierte und doch irgendwie involvierte Figur des Erzählers.) Gegen Ende des Romans muss er einsehen, dass er selber mitten im Geschehen drin steckte, ja sogar durch ein paar keineswegs geplante oder durchdachte Äusserungen den Stein ins Rollen brachte, der letztendlich der Quapp, einer der Hauptfiguren, das ihr beinahe vorenthaltene Millionenerbe doch noch zuschanzen sollte. Die Erbschaft Quapps war aber auch gleichzeitig der letzte, die Gruppe auseinanderreissende Schlag.
Heimliche Hauptfigur des Romans ist allerdings kein Mensch, sondern die Stadt Wien. Liebevoll und detailliert schildert Doderer Vorstädte und Spaziergänge in und um Wien. Die Atmosphäre vor allem der grossbürgerlichen Vorstädte ist glänzend getroffen. (Womit ich gleichzeitig den einzigen kleinen Kritikpunkt streife, den ich anzubringen hätte: Die Schilderung der Unterwelt, des Milieus der kleinen Ganoven und Hürchen erinnert mich – bei allem Realismus, den Doderer ihm voraus hat – doch allzu sehr an die romantisierenden Schilderungen eines Eugène Sue. Es war halt wohl letzten Endes doch nicht Doderers Milieu. Wobei ich, um gerecht zu sein, feststellen muss: Meines auch nicht. Vielleicht irre ich mich ja auch, und Doderers Schilderungen sind realistisch. Auf mich wirken sie aber jedenfalls nicht so.)
Eine weitere Hauptrolle spielt die Erotik bei Doderer. Nicht im Sinne, dass „Die Dämonen“ nun von Bett- und Sexszenen wimmeln würde. Sehr wohl aber werden zum Ende der Ereignisse die Pärchen gleich herdenweise zusammengetrieben (ohne, wie es dem Trivialautor May ein halbes Jahrhundert früher passiert war, dabei ins Lächerliche abzugleiten). Doch auch Expliziteres lässt sich finden: Die Vorliebe eines Protagonisten für dicke Damen, die ihn auch entsprechende Annoncen in die Zeitung setzen lässt, und dessen – von Geyrenhoff zensurierte – Erlebnisse dabei wir erfahren; die Vorliebe einer Nebenfigur für SM-Inszenierungen à la „verschärfte Hexenbefragung“ erfahren wir ebenso.
Doderers Roman ist in mehrfacher Hinsicht ein „Monster“. Es ist der längste, der umfangreichste aller seiner Romane und schildert einen Wirbel von Ereignissen über die den Überblick zu behalten keinem der Akteure im Moment des Geschehens gegeben war. Erst die Chronik Geyrenhoffs, lange nachher erstellt, kann den Überblick schaffen. Künstlich, künstlerisch – im Nachhinein. Der Künstler als Epimetheus.
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