Johann Peter Hebel: Gedichte und frühe Schriften (1776-1801)

Für Johann Peter Hebel habe ich eine eiserne Regel meiner kleinen Bibliothek gebrochen, die da lautet: Wenn du bereits eine brauchbare und einigermaßen gut aussehende Ausgabe eines Autors oder eines Werks hast, kaufe keine zweite! (Und falls du es doch tust, entsorge zumindest die erste!) Denn als ich gesehen habe, dass bei Wallstein eine Hebel-Werkausgabe in 6 Bänden erscheinen wird, wusste ich: Die musst du haben. Ich wusste aber auch, dass ich die bisher hier stehende Winkler-Ausgabe in einem Band nicht weggeben würde, weil sie Teil einer Reihe von Autoren und Autorinnen des deutschen Realismus ist.

Nun gehört Hebel von seinen Lebensdaten her (1760-1826) ja nicht wirklich zur Epoche des Realismus – er fällt gewissermaßen aus seiner Zeit. Denn wenn es einen gibt, der die Harmonie-Bedürftigkeit des Biedermeier und eines großen Teils des deutschen Realismus vorweg nimmt, die dann in einem Stifter ihren wohl typischsten Ausdruck gefunden hat, ist es Hebel. In meiner persönlichen Lese-Sozialisation gehört er zusammen mit Christian Morgenstern zu den „Autoren für Erwachsene“, die ich als erstes nicht nur kennen, sondern wirklich lieben gelernt habe. Bis heute ist er einer meiner Lieblinge. Ich habe schon im zarten Alter von etwa 10 oder 12 Jahren Morgensterns Gedichte und Hebels Novellen immer und immer wieder gelesen. Einige der Gedichte Morgensterns kann ich bis heute ebenso auswendig hersagen, wie einige der Geschichten aus dem Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes.

Der hier vorzustellende erste Band der neuen Werk-Ausgabe Hebels präsentiert ein anderes, viel zu wenig bekanntes Kleinod aus dessen Schaffen – seine Allemannischen [sic!] Gedichte. Auch in ihnen zeigt sich Hebel als der Realist mit einem Hang zur ländlichen Idylle. Aber seine Kunst liegt darin, es mit dieser Idylle nicht zu übertreiben. Er schildert durchaus die schönen (oder, wie man zu sagen versucht ist, die gemütlichen) Seiten des Landlebens, verfällt aber dabei nie in Kitsch und wird auch nicht, wie sein fast 40 Jahre jüngerer Autoren-, Theologen- und Realisten-Kollege Bitzius (a.k.a. Jeremias Gotthelf), christlich moralisierend. Seine Landleute, die den großen Teil des Personals der Gedichte ausmachen, sind bodenständig, brav und ehrlich – aber Hebel missbraucht sie nicht, um irgendwelche Moral ans Publikum auszuteilen. Zu dieser Bodenständigkeit passt auch, dass die meisten Gedichte in freien Versen sind; selten herrscht bei Hebel Reimzwang.

Die Allemanischen Gedichte haben zu Hebels Lebzeiten fünf Auflagen erlebt – nachdem der Autor für die erste Auflage noch das Papier selber zahlen musste und auch dann nur den Druck zugesichert erhielt, weil er bereits eine längere Liste an Subskribenten vorweisen konnte. Ich weiß nicht, wie weit diese Gedichte außerhalb des alemannischen Dialektraums gelesen werden, gelesen werden können. Hebel gibt zwar ein paar Hinweise zur Aussprache und fügt sogar ein kleines Glossar am Ende bei. Die Herausgeber der vorliegenden Ausgabe habe es in ihren Anmerkungen zusätzlich ergänzt. Dennoch könnte ich mir vorstellen, dass die Gedichte für Nicht-Alemannen nicht einfach zu lesen sind, stolpere ja sogar ich über den einen oder andern Ausdruck, da der Oberalemanne Hebel zum Teil andere Laute verwendet, als ich in meinem niederalemannischen Dialekt. Zum Teil verwendet er auch Wörter, an die ich mich zwar noch von meiner Großmutter her erinnere, die ich aber nicht mehr aktiv verwende und die ich auch sonst heute nicht mehr höre. Andererseits hat sogar Goethe diese Gedichte gelesen und rezensiert. (Einiges der Kritik – nicht nur Goethes – hat Hebel auch in spätere Auflagen einfließen lassen und so von Auflage zu Auflage an den Gedichten gefeilt.)

Band 1 der neuen Werk-Ausgabe – die eine Leseausgabe sein soll und keine kritische – umfasst, neben dem größten und wichtigsten Teil der Allemannischen Gedichte, auch Hebels hochdeutsche Gedichte, mit ähnlichen Themen, aber weniger originell als die alemannischen; Stammbuchverse (Gebrauchspoesie, wie wir sie auch von Goethe kennen); die auf Latein verfassten Reden des Schülers Hebel, die sich vor allem durch unbekümmertes Nichtwissen auszeichnen, Ausschreiben von Vorbildern inklusive Übernahme von deren Weltbild (so bei einer Gegenüberstellung von Cäsar und Augustus – hie schwarz, dort weiß – allerdings lassen sich schon Ansätze einer Differenzierung feststellen); zum Schluss das so genannte Stilbuch, das sich der Pädagoge Hebel anlegte, als er am Karlsruher Gymnasium unterrichtete: Texte zur Übersetzung ins Lateinische (seltener aus dem Lateinischen), die zugleich einen eleganten lateinischen Stil fördern sollten und unabhängig davon eine pädagogische Nutzanwendung hatten. Das Stilbuch war von Hebel nie zur Veröffentlichung gedacht; es ist auch erst 1986 zum ersten Mal erschienen. Es blitzen aber thematisch und formal bereits die ersten Ansätze des späteren Kalender-Schreibers hervor.


Johann Peter Hebel: Gesammelte Werke. Kommentierte Lese- und Studienausgabe in sechs Bänden. Herausgegeben von Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann unter Mitarbeit von Esther Stern im Auftrag der Literarischen Gesellschaft Karlsruhe. Band I. Göttingen: Wallstein 12019

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