Selbst in meinem hohen Alter lernt man noch neue Wörter hinzu. Ich muss gestehen, dass mir mit dem letzten Band der Römischen Geschichte von Cassius Dio in der Artemis & Winkler-Ausgabe das Wort ‚Epitomé‘ zum ersten Mal bewusst über den Weg gelaufen ist. Ich kannte ‚Auszug‘ oder ‚Exzerpt‘ – aber ‚Epitomé‘ war mir neu.
Dabei könnte ich nicht einmal sagen, warum die abschließenden 20 Bücher der Römischen Geschichte nicht im Original überliefert sein sollten. Es sind ja auch die Bücher, in denen Dio Cassius bis zu seiner eigenen Gegenwart voran schreitet, die Bücher, in denen er aus erster Hand berichten kann. (Und es auch tut, wenn man den vorhandenen Auszügen Glauben schenken kann.) War in byzantinischer Zeit die Faszination durch die beiden Bürgerkriege (der erste um die Nachfolge des Sulla, den Caesar für sich entscheiden sollte; der zweite um die Nachfolge eben dieses Caesar, den Augustus für sich entscheiden sollte), war die Faszination der Errichtung einer permanenten Ein-Mann-Herrschaft (auch wenn sich der Staat noch immer „Republik“ nennen sollte!) so gross, dass die spätere Zeit, als es bereits ’nur noch‘ um die Weitergabe der Herrschaft ging, für Byzanz verblasste?
Dabei haben wir in der Zeit zwischen dem vierten Konsulat des Claudius zu Beginn von Buch 61 und der wackeligen Herrschaft des Severus Alexander in Buch 80 nicht nur den Moment der größten geografischen Ausdehnung des Römischen Reichs unter Hadrian vor uns. Es ist auch eine Zeit einer relativen Stabilität an dessen Spitze – zumindest, nachdem der letzte der julisch-claudischen Dynastie, Nero, seinen unrühmlichen Abgang genommen hatte und das kurze Interregnum mit Galba, Otho und Vitellius durch Vespasian zu einem glücklichen Ende geführt worden war. Vespasian, der – nachdem sich in Rom sozusagen die Kaiser die Klinke in die Hand drückten – zunächst so tat, als ob ihn das Ganze nichts anginge und auch nicht interessiere, er vielmehr damit beschäftigt sei, die aufsässigen Juden niederzuringen, indem er Jerusalem belagerte. Bzw. später, als er seinem Sohn Titus die „Akte Jerusalem“ übergeben hatte (der sie dann auch zu einem aus der Sicht Roms guten Ende führte), damit, das ebenfalls aufsässig gewordene Ägypten zu befrieden. (Im Zusammenhang mit Jerusalem finden wir auch eine kurze Erwähnung des Flavius Josephus – Neid unter Geschichtsschreibern scheint Cassius Dio fremd gewesen zu sein.) Auch in Britannien gelang es dieser Zeit, die Herrschaft Roms für einige Zeit zu festigen – indem man die aufsässigen Nord-Briten einfach durch eine Mauer abtrennte.
Vielleicht war es den Byzantinern einfach zu langweilig, zu lesen, wie es Vespasian zu Stande brachte, die Situation an der Staatsspitze soweit zu stabilisieren, dass zumindest seine Söhne – erst Titus, dann Domitian – ihm problemlos im Kaiseramt nachfolgen konnten. Das kurze Interregnum mit Nerva, der von Anfang an als Übergangslösung konzipiert war, mündete dann in die Kaiser ein, die für uns Heutige nicht nur das physische Erscheinungsbild Roms geprägt haben: Trajan, Hadrian, Antoninus Pius und „der Philosoph auf dem Kaiserthron“, Mark Aurel. Dass diese Reihe so glänzend und die Epoche innenpolitisch verhältnismäßig ruhig war, verdankte sich dem Umstand, dass hier nicht leibliche Nachkommen auf den Thron stiegen, sondern auf Grund ihrer Qualitäten ausgesuchte Adoptivsöhne. Außenpolitisch war die Lage weniger ruhig, aber am Glanz dieser Epoche ändert auch nichts, dass Rom seine große Ausdehnung in ihr schon wieder zu verlieren begann: Schon vor der Zeit des Mark Aurel schrumpfte Rom, was vor allem an der Auseinandersetzung mit verschiedenen persischen Herrschern lag, die im Zweistromland Gebiete zurück eroberten, welche für kurze Zeit römisch gewesen waren. Ausgerechnet „der Philosoph auf dem Kaiserthron“, Mark Aurel, sollte die bewährte Adoptions-Regel der Thronfolge brechen, indem er seinen leiblichen Sohn Commodus installierte. Eine schlechte Idee, denn dem scheinen irgendwann die Sicherungen im Größenwahn durchgebrannt zu sein – so benannte er 192 sämtliche Monate eines Jahres nach seinen verschiedenen (Ehren-)Namen. Die Gründe seiner Ermordung sind aber auch Cassius Dio offenbar unklar; sie scheinen eher privater denn staatspolitischer Natur gewesen zu sein.
Es folgte, was oft das „Zweite Vierkaiserjahr“ genannt wird. Allerdings stehen 193 vor allem Pertinax und dann Septimus Severus im Vordergrund. Letzterer gründete die Dynastie der Severer, der auch der letzte Kaiser angehören sollte, den Cassius Dio noch erlebte: Severus Alexander. Dazwischen liegen Caracalla, Geta, Macrinus und Bassian (den erst eine Zeit nach Cassius Dio „Elagabal“ nennen sollte – nach seiner Vorliebe für die syrische religiöse Tradition, deren versuchte Einführung in Rom Bassian selbst bei seinen Soldaten verhasst machte und für seine Ermordung verantwortlich zu machen ist). Wie schwach die Machtbasis des Severus Alexander war, sieht selbst Cassius Dio und gibt es indirekt zu, wenn er erzählt, wie er, Cassius Dio, nach seiner Wahl zum Konsul, sich nur ganz kurz in Rom zeigte und dann in seine Heimat zurückkehrte, da sein Leben als Konsul von Severus‘ Gnaden in Rom nicht sicher war. Severus‘ Ermordung in einer weiteren Soldaten-Meuterei sollte Cassius Dio allerdings nicht mehr erleben.
Ein kleiner Anhang mit einem Namensregister für alle fünf Bände schließt den letzten Band ab. Alles in allem eine kenntnis- und detailreiche Geschichte Rom ab urbe condita. Auch Cassius Dio berichtet und urteilt aus senatorieller Sicht, enthält sich aber einiger der schlimmsten Verurteilungen (um nicht zu sagen: postumer Rufmorde!) jener Kaiser, die dem Senat weniger Respekt zollten, und die wir in einem Tacitus zum Beispiel recht unreflektiert finden können.
Cassius Dio: Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh. Düsseldorf: Artemis & Winkler, 2009