E. A. Ch. Wasianski: Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren

Kant hatte sich zu Lebzeiten bei seinen Schülern und Freunden eine Veröffentlichung jedweder biografischer Notizen aufs Nachdrücklichste verbeten. Diese hielten sich denn auch an das Verbot des Meisters. Aber schon kurz nach Kants Ableben, noch 1804, erschienen aus diesem Kreis gleich drei Biografien – zusammengefasst in einem Buch unter dem Titel Über Immanuel Kant. Da diese drei Biografien von Männern stammen, die Kant noch zu Lebzeiten kannten, stellen sie bis heute den Steinbruch dar, aus dem nachfolgende Biografen ihr Material bezogen. Es ergab durchaus Sinn, die drei Biografien miteinander zu publizieren: Bei allen unumgänglichen Überschneidungen beschäftigten sie sich doch mit drei unterschiedlichen Lebensphasen Kants. Borowski, der Älteste, kannte vor allem den jungen Kant und stellte also den Jüngling vor und den jungen Gelehrten, der gerade seine Laufbahn an der Universität Königsberg antrat. Er beschreibt z.B. die Art, wie Kant seine Vorlesungen gestaltete. Jachmann beschäftigte sich mit der Zeit, in der die grossen Kritiken Kants entstanden. Wasianski dann schilderte Kants Alter und seinen langsamen Verfall. Borowskis und Jachmanns Biografie haben wir bereits vorgestellt. Hier nun die letzte, die von Wasianski.

Wie Borowski und Jachmann verzichtet auch Wasianksi bewusst darauf, den Philosophen (oder, wie er es nennt, den Professor der Logik und Metaphysik) darzustellen. „Sein“ Kant hat sich schon von jedweder Vorlesungs-Tätigkeit zurückgezogen. Zu Beginn seines Berichts hält er zwar seinen alten Tagesablauf noch ein, wie er uns von Jachmann geschildert worden ist: Er steht früh auf, trinkt seinen Morgenkaffee, liest Fachliteratur und schreibt. Er arbeitet ja zunächst noch an einem philosophischen Werk; er wird es allerdings nie beenden – zu rasch nehmen seine Kräfte ab. Es beginnt damit, dass er nicht mehr konzentriert schreiben kann, dann geht auch das Lesen anspruchsvoller Fachtexte nicht mehr. Wasianski – zunächst nur ein jüngerer Freund, danach Kants Amanuensis (was zu meiner Zeit „Assistent“ oder „Hilfsassistent“ genannt wurde, also eine rein universitär-berufliche Tätigkeit) – wurde für den alternden Philosophen mehr und mehr unentbehrlich: als „Außenminister“ und „Zeremonienmeister“ (er regelte, wer noch zu Kant vorgelassen werden sollte – unbekannte Gäste oder zu viele Leute aufs Mal machten den alten Mann nervös und regten ihn auf), als „Finanzminister“ (Kant verlor irgendwann das Gefühl für Geld und übergab den Schlüssel zum Haustresor seinem Amanuensis) oder als „Innenminister“ bzw. „Personalchef“ (Wasianski regelte den Austritt des langjährigen, nun aber Kant zuwider gewordenen Dieners Lampe, besorgte einen Nachfolger, und, als sich herausstellte, dass der alte und hinfällige Mann nun tatsächlich eine Betreuung rund um die Uhr benötigte, ständig jemand um ihn sein musste, holte er Kants seit langem verwitwete Schwester ins Haus, um den neuen Diener zu entlasten).

Auch Wasianski schildert die Mittagessen, die Kant bei sich zu Hause mit Freunden zelebrierte. (Wir erfahren nebenbei, dass der Philosoph Bier überhaupt nicht mochte.) Er schildert aber auch, wie immer weniger Freunde eingeladen werden konnten, da eine große Gesellschaft dem alten Mann zu viel wurde. Wie Kant immer vergesslicher wurde und dieselben Geschichten mehrmals hintereinander erzählte. Wie er immer unaufmerksamer den Verhandlungen folgte, immer schweigsamer wurde, bis zuletzt praktisch nur noch ein schweigendes Häufchen Elend in einem mittlerweile weich gepolsterten Stuhl sass und – allerdings zunächst immer noch mit beträchtlichem Appetit – das Essen in sich hinein schaufelte.

Wasianski – man spürt es in jeder Zeile – liebt, ja verehrt, seinen Meister. Dennoch hindert ihn das nicht, dessen Verfall genau zu beobachten und präzise zu schildern. Wer je in seiner Familie oder Verwandtschaft erlebt hat, wie Altersschwäche und Altersdemenz die Persönlichkeit eines geliebten Menschen zerstören, wird in Wasianskis Schilderdung dieses Vorgangs bei Kant vieles wiederfinden, das er selber durchmacht oder durchgemacht hat.

Doch auch den Kant, der noch in vollem Besitz seiner geistigen Kräfte war, schildert er ehrlich. Eine Prognose, die Kant einmal über das weitere Vorgehen Napoléons machte und die kein höheres Niveau aufweist als irgendeine Stammtisch-Vorhersage irgendeines Müller oder Meier in irgendeinem “Sternen” oder “Krug”, wird ebenso getreulich wieder gegeben, wie Kants astronomische Vorhersagen (besser fundiert als sein politischen), die von einem gewissen Kepler bestätigt worden sein sollen. (Ich vermute, dass den Theologen Wasianksi da sein eigenes, geringes wissenschaftsgeschichtliches Wissen im Stich ließ…)

Von allen drei Biografien, die 1804 gemeinsam erschienen sind, ist diese die eindrücklichste. Nicht künstlich-literarisch aufgetakelt, wie die Jachmanns. Im Gegensatz zur über Jahre dauernden Niederschrift, die Borowskis Biografie hinter sich hatte und die diese etwas disparat anmuten lässt, wurde Wasianskis Text offenbar in relativ kurzer Zeit niedergeschrieben. Ehregott Andreas Christoph Wasianski ist der präziseste der drei „Ur-Biografen“ Kants und sein Text sehr lesenswert.


Gelesen in folgender Version:

Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von Borowski, Jachmann und Wasianski. Mit einer Einleitung von Rudolf Maltner und einem neuen Vorwort von Volker Gerhardt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2012

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