Maryanne Wolf: Das lesende Gehirn

Was macht die geschriebene Sprache aus uns, geht ihr Einfluss über den kulturellen Aspekt hinaus, sodass sogar die Art und Weise unseres Denkens beeinflusst wird von der Fähigkeit zu lesen? Diesen und verwandten Themen geht Wolf in diesem Buch nach, wobei drei Bereiche unterschieden werden: Die Entwicklung der geschriebenen Sprache, der ersten Alphabete und die damit verbundenen Anforderungen, die Analyse der individuellen Leseentwicklung und schließlich die Untersuchung all jener Probleme, die Kindern (oder Erwachsenen) das Lesenlernen erschweren und verunmöglichen (alle Formen der Legasthenie).

Tatsächlich kann die Bedeutung der Schrift (und damit des Lesens) für die Kultur des Menschen gar nicht überschätzt werden: Geschriebenes erfüllt jene von Michael Tomasello so genannte “Wagenheberfunktion” für alle Bereiche des Wissens, wodurch wir uns ganz entscheidend von unseren tierischen Verwandten getrennt haben. Die Möglichkeit, auf gespeichertes Wissen zurückzugreifen, aus den Erfahrungen unzähliger vergangener Generationen lernen zu können (und dabei nicht auf mündliche Tradierung angewiesen zu sein), ist entscheidend für die Geschichte der letzten 5000 Jahre. Wolf gibt einen kurzen Abriss der verschiedenen Schriftsysteme, beschreibt den ersten sumerischen Leseunterricht (der auf grundsätzlich auch heute noch gültigen Überlegungen basiert), weist aber auch auf berühmte Skeptiker der Schriftkultur hin (wie etwa Sokrates, der durch den Text vermeintliche Wahrheiten vermittelt sah, die der entscheidenden Kritik – durch die Diskussion – entzogen seien). Solchen Einwänden waren und sind fast alle diesbezüglichen Entwicklungen ausgesetzt (gewesen) – vom Buchdruck bis zum heute überall verfügbaren Wissen durch das Internet. Und auch wenn sich die Befürchtungen im großen und ganzen nicht bewahrheitet haben, so sind einige dieser Bedenken nicht ganz unberechtigt.

Teil zwei beschreibt ein Gehirn, das diese Fähigkeit des Lesens aus bereits vorhandenen Strukturen zu entwickeln gezwungen ist. Wolf orientiert sich dabei weitgehend an Stanislas Dehaene, der vom Recycling von Fähigkeiten spricht, die ursprünglich für gänzliche andere Funktionen entwickelt wurden (etwa zum Spurenlesen), da die Zeit für eine evolutionäre Ausbildung spezifischer Lesezentren viel zu kurz ist. Dabei wird deutlich, welch kompliziertes und komplexes Zusammenspiel für das Entziffern eines Textes notwendig ist: Von der visuellen Aufnahme der Zeichen bis zu deren phonetischer und semantischer Umsetzung ist es auch im Gehirn ein weiter Weg, weshalb – wie im dritten Teil ausführlich dokumentiert – es auch eine Vielzahl von möglichen Gründen für alle Formen der Legasthenie gibt. Dabei sind die bildgebenden Verfahren der letzten Jahrzehnte von überragender Bedeutung und haben so manche Theorie obsolet werden lassen, anderes hingegen erwies sich als ein kluger und vorausschauender Ansatz. Anhand zahlreicher Fallstudien zeigt Wolf die seltsamen Wege, die ein Gehirn (mit Leseschwierigkeiten) nimmt – bzw. nicht nimmt, wobei dieser multikausale Ansatz sehr vielversprechend ist: Bei einer auf derart vielen komplexen Zusammenhängen aufbauenden Fähigkeit wird man mit nur einer Ursache kaum das Auslangen finden.

Obwohl das Buch mich sowohl inhaltlich als auch methodologisch angesprochen, beeindruckt hat, fiel mir die Lektüre nicht leicht (was keineswegs an einer komplizierten, fachspezifischen Darstellung lag): Die Autorin verliert sich immer wieder in Einzelheiten, das gesamte Buch macht den Eindruck, als ob auf einen Lektor für eine übersichtliche Strukturierung des Inhalts verzichtet worden wäre. Abschweifungen lassen den Lesefluss stocken, dann wieder wird man mit der Beschreibung von hirnphysiologischen Vorgängen konfrontiert, die sich weder aus dem zuvor Gelesenen erschließen lassen noch für das weitere Verständnis von Wichtigkeit sind. Das Interesse an der Thematik ließ mich nie daran denken, das Buch abzubrechen, aber der Eindruck verstärkte sich zunehmend (obschon der letzte Teil die Legasthenie betreffend der am besten lesbare war), dass man hier die Chance zu einem leserfreundlicheren Buch leichtfertig vergeben hat. Zumindest kein Buch, das einen in seinen Bann zieht, sondern eine (unnötig) mühsame Lektüre, obschon interessant.


Maryanne Wolf: Das lesende Gehirn. Heidelberg: Spektrum 2009.

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