Alexander Carius, Harald Welzer, Andre Wilens (Hrsg.): Die offene Gesellschaft und ihre Freunde

Nach der ersten Euphorie der Willkommenskultur wurde das Raunen aus rechten und nationalistischen Ecken immer lauter: Dem entgegenzuwirken haben Alexander Carius und Harald Welzer eine Art wanderndes Diskussionsforum gegründet, um über die unterschiedlichen Implikationen der „Flüchtlingskrise“ (und eine der Autorinnen des Buches hat Recht, wenn sie es lächerlich findet, wenn wir von „Krise“ sprechen, Krisen pflegen an anderen Orten der Welt mit anderen Folgen stattzufinden) zu debattieren. Ein Ergebnis dieser Diskussionen stellt der vorliegende Sammelband dar, in dem Autoren unterschiedlichster Couleur das Lob einer offenen Gesellschaft singen.

Wie es allerdings bei solchen Sammelwerken zu gehen pflegt: Da wird auf Ausgeglichenheit geachtet, da darf jeder Mal und so liest sich das über weite Strecken – wie häufig in solchen Fällen – wie individualisierte Moralpredigten. So schwadroniert etwa der Herr Pfarrer Lilie (sic) vom wichtigen Faktor Religion „auch in säkulären Gemeinwesen“ und verleiht seiner Sorge Ausdruck, „wenn Menschen in unserem Land offenen Bekenntnissen zur Religion ablehnend gegenüberstehen“. Natürlich sorgt sich da einer pro domo und lobt Kopftuch und Kippa, weil es sonst auch dem Kreuz an den Kragen gehen könnte. Der „Designtheorie“ lehrende Architekt Friedrich von Borries geht von der weltbewegenden Erkenntnis aus, dass „Offenheit das Gegenteil von Geschlossenheit“ sei (worin ihm kaum jemand widersprechen wird). Er plädiert für die „offene Stadt“, antwortet auf die selbst gestellte Frage nach dem Wesen einer solchen, dass ein derartiges Bild „unscharf bleibe“. Diese Unschärfe aber gehöre zur offenen Stadt – usf.

Natürlich gibt es auch Beiträge, denen man zustimmen kann, muss, dann aber sind die dort vorgetragenen Erkenntnisse eher Allgemeinplätze. Interessanter (und wohl auch ehrlicher) vielleicht noch der Beitrag von Milo Rau „Ich bin auch nur ein Arschloch! Fünf Punkte gegen den zynischen Humanismus oder wie man anfängt, die Welt zu retten. Ein Aufruf zum Umdenken.“ indem er die Heuchelei des Westens vergleicht mit den gutgemeinten Versuchen von Marie Antoinette, die, tatsächlich um die Armen besorgt, ihre alten Kleider Dienerinnen gab und sich um Suppenküchen bemühte. Das kommt nun wirklich bekannt vor, denn auch wir beruhigen unser Gewissen mit prallvollen Rotkreuzsammelsäcken, Kuscheltieren für kleine syrische Kinder und – Suppenküchen, bestückt mit Freiwilligen. Aber wir rütteln nicht an unserer prinzipiellen wirtschaftlichen Vorherrschaft, wir importieren weiterhin billige Rohstoffe, lassen in Äthiopien und Bangladesh T-Shirts nähen und verkaufen subventionierte Tomaten nach Ghana, nicht ohne zuvor mit riesigen Fischkuttern den Atlantik vor Afrika zur Fischwüste zu machen. Und es ist fraglich, ob wir uns wie Marie Antoinette durch das Verschenken getragener Kleider von diesem Tun freikaufen können.

Gerade auf die wirtschaftlichen Zusammenhänge der Migrationsbewegungen wird kaum eingegangen (viel mehr wird über Integration geschrieben, also darüber, wie sich die Flüchtlinge benehmen sollen, damit sie uns nicht allzu sehr auf die Nerven fallen). Sehr treffend steht am Beginn eines Beitrags die Aussage eines Helfers: „Ich kenne nicht einen Flüchtling, der nicht am liebsten da leben würde, wo er herkommt.“ Dies sollte wir bedenken bei aller Hilfsbereitschaft, wenn wir konsumverseucht unsere Almosen unter die Leute bringen. Überhaupt: All unser Aktivismus, Aktionismus in Verbindung mit der latenten Unruhe von Menschen, die abwechselnd auf das Smartphone starren, Einkäufe vorbereiten und Urlaube planen: Wie wär’s damit, einfach mal Ruhe zu geben (schon wegen des ökologischen Fußabdrucks)? Mir persönlich sind vor allem die permanent Reisenden suspekt, die da Erfüllung finden auf ihren Ausflügen (obschon ich nicht feststellen konnte, dass es dem vielgerühmten Horizont der Betreffenden zur Erweiterung gedient hätte), Reisende wie der Herr Urian, dem Claudius ein beredtes Resumee seines Ausfluges ziehen lässt:

Und fand es überall wie hier,
Fand überall ’n Sparren,
Die Menschen grade so wie wir
und eben solche Narren.

Aber wahrscheinlich ist mit Urlaubs- und Reiseabstinenz das Vaterland auch nicht mehr zu retten.


Alexander Carius, Harald Welzer, Andre Wilens (Hrsg.): Die offene Gesellschaft und ihre Freunde. Frankfurt a. M.: Fischer 2016.

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