Wanderheuschrecken gleich stürzten sich im Frühsommer dieses Jahres die Damen und Herren des Feuilletons auf das Todesjahr Leonardo da Vincis, das sich 2019 zum 500. Male jährte. Längst sind die Heuschrecken weitergezogen. Wir möchten hier aber noch einmal an den großen italienischen Maler erinnern.
Und zwar an Hand der kleinen Biografie, die Giorgio Vasari, Leonardos Landsmann und (Beinahe-)Zeitgenosse (da Vinci lebte noch, als Vasari 1511 zur Welt kam, getroffen hat er das Kind allerdings nie) 1550 zum ersten Mal herausgab. Dies im Rahmen seines Sammelwerks von Künstlerbiografien mit dem Titel Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue infino a’ tempi nostri: descritte in lingua toscana da Giorgio Vasari, pittore arentino – Con una sua utile et necessaria introduzione a le arti loro, bzw. 1568 in der beträchtlich erweiterten zweiten Auflage mit dem Titel Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori et architettori, scritte e di nuovo ampliate da Giorgio Vasari con i ritratti loro e con l’aggiunta delle Vite de’ vivi e de’ morti dall’anno 1550 infino al 1567. Vasari war zu Lebzeiten ein selber nicht unbekannter und geschätzter Maler und Architekt (immerhin hatte er es zum Hofmaler und -architekt der Medici gebracht), aber heute gründet sein Nachruhm auf seinem biografischen Werk. Mit den Biografien italienischer Künstler hat Vasari die Kunstgeschichte zumindest mitbegründet; auch der Umstand, dass da jemand Bilder von Künstlern beschrieb, ohne direkt von einem Patron, einem Mäzen, beauftragt zu sein, und diese Beschreibungen an die Öffentlichkeit brachte, war so ziemlich ein Novum, und so verdankt ihm auch die moderne Kunstkritik zumindest einige Hebammendienste. Dabei dürfen wir uns nicht vorstellen, dass Vasari sein Monumentalwerk ganz alleine schrieb. So, wie die damaligen Malerwerkstätten mehrere Leute beschäftigten, Spezialisten für den Hintergrund, Spezialisten für den Faltenwurf etc., und der Meister nur noch ein Gesicht oder zwei einfügte, so werden auch die einzelnen Artikel von Beiträgern erstellt worden sein, die heute niemand mehr kennt. Immerhin hatte Vasari ja auch seine Malerwerkstätte in Gang zu halten und konnte nicht alle Zeit der Welt in sein Buch investieren.
Der Artikel über da Vinci ist des Lobes voll. Wenn der Florentiner kritisiert wird, dann vor allem für zwei Dinge: den Umstand, dass er sich nicht scheute, im Voraus Geld anzunehmen für einen Auftrag, den er dann nie oder bestenfalls zur Hälfte ausführte, und den Umstand, dass er in seine technischen Fähigkeiten allzu großes Vertrauen setzte und so seine Bilder ruinierte, weil er z.B. felsenfest überzeugt war, eine Methode gefunden zu haben, mit der Ölfarbe al fresco auf Mauerwerk hielt. (Was nicht der Fall war: Dieses Bild zerfiel schon nach rund einem Jahr zur Unkenntlichkeit.) Vasaris Text ist interessant dadurch, dass er eine der frühesten biografischen Quellen zu da Vinci darstellt. Da Vincis Jähzorn, seine Unreinlichkeit, aber auch sein intensives Studium der Anatomie – wir wissen davon primär durch Vasari.
Meine Ausgabe1) ist mit einer großzügigen Einleitung versehen, die in etwa denselben Umfang hat, wie Vasaris Leonardo-Artikel selber. Darin rühmt sich der Herausgeber und Übersetzer unter anderem damit, dass sein Text die erste Ausgabe überhaupt darstelle, bei der erste und zweite Auflage der Vite zu einer Leseausgabe verschmolzen worden seien, in der einerseits der Text beider Auflagen integral enthalten ist, ohne andererseits durch Fußnoten oder andere philologische Tricks den Lesefluss zu behindern. Er schafft dies, indem er den Text in drei Farben druckt: Normales Schwarz für den Text, der in beiden Auflagen identisch ist; grau wird gedruckt, was nur in der ersten Auflage stand; braun, was die Auflage von 1568 hinzugefügt hat. (Daher denn auch die braune Farbe im Titel dieses Aperçus!) Die Änderungen betreffen auf der einen Seite Fehlinformationen der ersten Auflage, die in der zweiten korrigiert wurden (so hielt Vasari 1550 Ser Piero noch für da Vincis Onkel, verbesserte dies dann 1568 zum Vater, der Ser Piero war). Zum andern nahm Vasari einiges allzu euphorisches Lob zurück. Vor allem der „göttliche“ da Vinci musste weniger hochgreifenden Adjektiven weichen, waren doch nun in der zweiten Auflage solche Epitheta dem in den Augen Vasaris größten italienischen Künstler vorbehalten – Michelangelo.
Im Übrigen finden wir hier auch alle bekannten Bilder da Vincis reproduziert – diejenigen, die Vasari kannte und beschrieben hatte, ebenso, wie diejenigen, über die er schweigt.
Für eine nähere Beschäftigung mit da Vinci muss dieser Text sicher beigezogen werden. Ich würde jedem, der – so wie ich – der italienischen Sprache nicht mächtig genug fürs Original ist, meine Ausgabe dafür empfehlen. (Es gibt von den gesamten Vite eine meines Wissens immer noch integral erhältliche deutsche Übersetzung, die bei Wagenbach erschienen ist. Ich kenne sie allerdings nicht. Die Übersetzung wurde seinerzeit preisgekrönt.)
1) The Life of Leonardo da Vinci by Giorgio Vasari. Edited by Martin Kemp. Translated by Martin Kemp and Lucy Russell. With 40 Illustrations. London: Thames & Hudson, 2019. [Anmerkungen fehlen natürlich nicht ganz; ebenso eine Liste zur weiteren Lektüre (die u.a. auf den hier bereits vorgestellten Kenneth Clark verweist).]