So auch im vorliegenden Roman über die erste Juristin Europas – Emily Kempin-Spyri (ihre Tante wurde mit „Heidi“ weltberühmt, stand aber den Bemühungen ihrer Nichte um Anerkennung als Intellektuelle eher skeptisch gegenüber). Geboren als Tochter eines Pastors (der später in die Privatwirtschaft wechselte – zur Eisenbahn) wird sie alsbald mit ihrer Rolle als Mädchen und Frau konfrontiert. Sie sieht ihre Mutter an der Seite des Vaters verkümmern, ohne eigenes Leben, immer den Wünschen des Mannes dienstbar. Und obschon der Vater von der Begabung des Mädchens angetan ist, vermag er nicht ansatzweise über seinen gutbürgerlichen Schatten zu springen, die Heirat mit dem Philanthropen und angehenden Pastor Walter Kempin führt zum endgültigen Bruch mit der Familie, der sich späterhin trotz der Erfolge Emilys nie mehr wird kitten lassen.
Walter Kempin bewundert die Gaben seiner Frau und unterstützt sie in ihrem Wunsch, zunächst das Abitur zu machen, dann Jurisprudenz zu studieren (Emily brachte in den ersten Jahren ihrer Ehe drei Kinder zur Welt, normalerweise ausreichend, um alle hochfliegenden Pläne zu begraben). Aber die Zeit ist noch nicht reif, überall stößt sie auf Schwierigkeiten, wird in der Gesellschaft als gebildete Frau scheel angesehen und mit Vorurteilen konfrontiert, die einigermaßen aktuell erscheinen. Dazu kommen die ständigen Geldprobleme der Familie, Walter ist nichts weniger als tüchtig, gibt seine Pastorenstellung auf (bzw. wird dazu gedrängt, wobei ihm auch das Leben seiner Frau vorgeworfen wird) und schlägt sich mehr schlecht als Journalist durch. Schließlich wagt die Familie den Sprung in die USA, von wo ermutigende Zeichen einer sich konstituierenden Frauenbewegung Europa erreichen. Doch trotz einiger Erfolge und einer gewissen Anerkennung gelingt es der Familie nicht, in New York wirklich Fuß zu fassen, Emily muss die Familie weitgehend allein durchbringen (Walters Erfolglosigkeit setzt sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten fort) – und nachdem ihr Mann mit den zwei älteren Kindern nach Zürich zurückkehrt, verlässt auch Emily (der älteste Sohn ist schwer erkrankt) genau zu dem Zeitpunkt die USA, als sich der Erfolg einzustellen beginnt.
Zurück in Zürich stößt sie auf die selben Schwierigkeiten wie zuvor: Zwar gelingt es ihr, eine Privatdozentur an der Universität zu erlangen, doch nach wie vor darf sie niemanden als Anwältin vor Gericht vertreten, da ihr als Frau das Aktivbürgerrecht nicht zustünde, sie unter der Vormundschaft des Ehemannes stehe. Dieser kann zwar den Anwaltsberuf (auch ohne Ausbildung) ausüben, doch Mangel an Eloquenz und Fähigkeiten lassen dies zu einer wenig einträglichen Geldquelle werden. Die Ehe zerbricht, Emily geht nach Deutschland, doch auch dorthin verfolgen sie die ewigen Sorgen, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu verdienen. Die Bewunderung und Wertschätzung, die ihr schließlich zuteil werden, sind jedoch durch Raubbau an ihrer Gesundheit schwer, zu schwer erkauft: Sie erleidet einen Nervenzusammenbruch, nachdem schon zuvor ein Unterleibstumor ferstgestellt wurde. Die letzten Lebensjahre verbringt sie in einer Klinik für Geisteskranke und stirbt im Alter von nur 48 Jahren in der Irrenanstalt Friedmatt in Basel. Inwieweit sie tatsächlich in ihren letzten Jahren geisteskrank war, lässt das Buch weitgehend offen, die Frage ist nach wie vor ungeklärt.
Hasler gelingt es in einer einfachen, aber eingängigen Sprache, das Leben der Frau im ausgehenden 19. Jahrhundert darzustellen, die sich mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter nicht zu begnügen bereit war, die ein Recht auf Bildung, auf Gleichberechtigung einforderte in einer für solche Forderungen noch nicht bereiten Gesellschaft (das Recht, als Anwältin vor Gericht aufzutreten, wurde den Frauen kurz vor dem Tod Emilys erteilt). Ihr Ansinnen, ihre Bemühungen kamen zu früh (wie sie am Ende ihres Lebens verbittert feststellt), sie haben aber die Möglichkeiten für die nach ihr Kommenden geschaffen. Die Selbstverständlichkeit, mit der Vorurteile vertreten wurden, die fehlende Bereitschaft weiter Kreise, sich mit vorgefassten Rollenbildern auseinanderzusetzen, hat – wie angedeutet – etwas beklemmend Aktuelles. Erst vor etwas mehr als 40 Jahren durften Frauen ohne Erlaubnis ihres Ehegatten eine Arbeit annehmen (für Deutschland gilt in etwa der gleiche Zeitraum, für die Schweiz weiß ich es nicht), wir wurden im Gymnasium noch nach Geschlechtern getrennt unterrichtet (nur manchmal ließ sich zum Leidwesen der Verantwortlichen eine gemischte Klasse aufgrund der Schülerzahlen nicht vermeiden) und als Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre Frauen vermehrt den Führerschein machten, wurde deren Unfähigkeit, ein technisch derart anspruchsvolles Gerät zu bedienen, zumeist offen (und in vollem Ernst) ausgesprochen. Die Tatsache, dass ich selbst noch eine Zeit erlebt habe, als von Gleichberechtigung bestenfalls in Ansätzen gesprochen werden konnte, lässt mich die Zerbrechlichkeit dieser Errungenschaften spüren – vor allem dann, wenn in Ländern der EU (wie Polen oder Ungarn) eine Rollenverteilung propagiert wird, die jener Zürichs im ausgehenden 19. Jahrhundert gleicht. Aber Aktualität hin oder her: Der Roman ist unabhängig davon ein glänzend geschriebenes Portrait einer (noch nicht ganz) untergegangenen Gesellschaft.
Eveline Hasler: Die Wachsflügelfrau. München: dtv 2008.