Ursula K. Le Guin: The Dispossessed [Die Enteigneten; a.k.a.: Planet der Habenichtse; a.k.a.: Freie Geister]

Ja, das ist es nun: Jenes Buch von Le Guin, das ich vor Jahrzehnten einmal gelesen habe, aber an dessen Titel ich mich gar nicht mehr und an dessen Inhalt ich mich nur noch vage erinnern konnte. Jetzt, nach der erneuten Lektüre, ist mir auch klar warum. The Dispossessed nämlich entspricht so ganz und gar nicht dem Typus von Science Fiction, den ich damals zu lesen pflegte, und der sich in den Namen Heinlein, Asimov, „Doc“ Smith oder A. E. van Vogt verkörperte. Dass mir der Roman so gar keinen Eindruck machte, mag auch der Zeit und der Übersetzung geschuldet sein. Ich las ihn damals als Planet der Habenichtse und wohl auch unter der – falschen – Voraussetzung, dass es sich dabei um eine Parabel auf den Kalten Krieg handle, der damals noch in voller Blüte stand.

Nichts nämlich könnte weniger wahr sein, als dass die beiden Planeten, auf denen die Handlung stattfindet, Anarres und Urras, stellvertretend stehen für die UdSSR und die USA. Zum einen ist Urras nicht einfach ein Planet mit nur einer Nation. Shevek, der Protagonist der Geschichte, lernt zwar nur einen definitiv kapitalistischen, dem Neoliberalismus zum Exzess huldigenden Staat näher kennen, aber es gibt auf Urras offenbar auch noch ein kommunistisches Gegengewicht. Was dazu führt, dass – wenn überhaupt – der Kalte Krieg auf Urras stattfindet. Dort treffen wir tatsächlich eine Rivalität zwischen zwei Machtblöcken an, und ein Streben nach Vormacht auf dem Planeten zwischen den beiden Blöcken. Ja, wir finden sogar die für den Kalten Krieg typischen Stellvertreter-Kriege um die Vormacht in Drittstaaten. Auf Anarres dagegen leben seit rund 160 Jahren die Nachfahren von Teilnehmern und Teilnehmerinnen einer auf Urras gescheiterten Revolution, die auf ihren Mond auswanderten. Anarres und Urras kreisen offenbar als Doppelplaneten umeinander – jeder ist des anderen Mond. Urras entspricht klimatisch der Erde, wie wir sie heute (noch) kennen; Anarres ist kälter und wasserarm (dafür reich an Erzen, die geschürft und aufs erzarme Urras exportiert werden). Anarres ist zwar kommunistisch, aber der dort gelebte Kommunismus entspricht eher dem urtümlichen Kommunismus, den die ersten Christen gelebt haben, als dem, was in den real-sozialistischen Ländern während des Kalten Kriegs zu finden war. Wer nicht will, muss nicht arbeiten; aber es will jeder arbeiten. Denn die Ideale Odos, jener Frau, die mit ihren Thesen die ursprüngliche Revolution auf Urras startete, sind noch immer omnipräsent. Es gilt das Prinzip der Selbstverwaltung kleinster Einheiten, aber jeder, der will, darf seine eigene kleine „Firma“ gründen – Hauptsache, was hergestellt oder erledigt wird, bringt den Übrigen etwas. Gegessen und geschlafen wird in Gemeinschaftsräumen. Im Prinzip erledigen Männer und Frauen die gleichen Arbeiten und Sex haben darf – gegenseitiges Einverständnis vorausgesetzt – jeder mit jedem und zu jeder Zeit. Auch homosexuelle Beziehungen sind akzeptiert. Es ist nicht nur die Blumenkinder-Utopie, sondern auch ganz klar auch die Le Guins, was hier vorgestellt wird. Anarres‘ Utopie allerdings ist gefährdet. Verschärft durch von Zeit zu Zeit dort auftretende jahrelange Dürreperioden, denen dadurch begegnet wird, dass alle verfügbaren Arbeitskräfte in die Produktion von Nahrungsmitteln gepumpt werden, erhält die eigentlich kommunistische und hierarchisch niemand übergeordnete Selbstverwaltung eben dieser Arbeitskräfte zusehends mehr und mehr faktische Gewalt über die anderen Einwohner des Planeten. Die meisten Einwohner finden, dass sie davon ja nur profitieren und akzeptieren dies; ein paar lehnen sich im Namen der alten Ideale Odos dagegen auf.

Unter diesen ist auch Shevek, der Protagonist. Doch The Dispossessed ist nicht nur ein politisch-utopischer Roman. Es ist auch die Geschichte der Entwicklung des Protagonisten: Schon als Zehnjähriger ist er in der Schule dadurch aufgefallen, dass er fasziniert vor dem Paradox des abgeschossenen Pfeiles steht, der sein Ziel nie wird erreichen können, weil er, bevor er es erreichen kann, zuerst die Hälfte des Weges dahin zurückzulegen hat, und dann von der Hälfte abermals erst die Hälfte und so fort ad infinitum. Und dennoch erreicht er offenbar sein Ziel. Das Paradox wird auch auf Anarres einem alten Denker zugeschrieben, aber der Knabe Shevek hat es auf eigene Faust wiedergefunden.

Das Buch besteht aus aus einem einleitenden und einem abschließenden Kapitel, die auf beiden Planeten spielen, bzw. zu Beginn die Reise Sheveks von Anarres nach Urras und zum Schluss die Rückreise schildern. Dazwischen lösen sich Kapitel ab, die abwechselnd auf einem der beiden Planeten spielen und als Titel jeweils auch nur den Namen des jeweiligen Planeten tragen. In den Anarres-Kapiteln schildert Le Guin die Entwicklung Sheveks vom Knaben, der fasziniert vor Zenons Paradox steht, hin zum genialen Mathematiker, der eine neue mathematisch-physikalische Theorie der Zeit und der Simultaneität aufstellt und nebenbei mehr und mehr in Opposition gerät zu den – trotz gegenteiliger offizieller Ideologie – „herrschenden“ Kräften auf Anarres, eine Opposition, die ihn schließlich dahin führt, auf Urras ins Exil gehen zu wollen / müssen. Dort harren andere Mathematiker seiner und seiner Theorie. Auf Urras erleben wir Shevek zunächst noch auf der Suche nach dem Schlussstein seiner Theorie (den er offenbar findet bei der Lektüre eines alten Physikers von Terra namens „Aeinstaein“). Wir erleben ihn aber auch mehr und mehr angewidert durch die Tatsache, dass er erkennt, wie man ihn vor dem „Volk“ abschottet, das in Armut und Unwissenheit lebt. Angewidert auch davon, dass seine vermeintlichen Kollegen und Freunde dort seine Theorie nur ausnützen wollen, damit ihr Staat mit überlichtschnellen Raumschiffen die Herrschaft über Urras und die ganze Galaxie erringen kann. Indem er seine Berechnungen nur in seinem Kopf aufbewahrt, gelingt es ihm, seine Theorie geheim zu halten. Er entflieht seinen De-facto-Wächtern und beteiligt sich gar an einer Revolte gegen die ökonomische Ungleichheit in diesem Staat. Die Revolte wird brutal niedergeschlagen. Shevek, der kein weltfremder Dummkopf ist, erkennt, dass er nun in Gefahr für sein eigenes Leben geraten ist. Es gelingt ihm, in die Botschaft von Terra zu gelangen, wo er um Asyl nachsucht. Die Botschafterin, die ihm hilft, erzählt davon, wie Terra seinerseits damals Hilfe erhalten hat von Hainish. Erst zusammen mit den Hainish ist es den Terranern nämlich geglückt, die zunehmende Umweltverschmutzung auf Terra zu stoppen, in die Terra durch Abholzung der Wälder und übermäßige Verwendung von Plastik, das sich nicht mehr auflöste, geraten war. Noch immer ist Terra voller Rauch und sehr, sehr warm, aber die Menschen können dort gerade noch leben. (Der Roman stammt von 1974. Es soll niemand sagen, man hätte halt zu lange von nichts gewusst!)

The Dispossessed ist also mehr als Science Fiction. (Das ist es auch: Obwohl später entstanden als The Left Hand of Darkness, spielt es zu einer früheren Zeit in der Geschichte des Hainish-Zyklus, schildert es doch zwar nicht die Entstehung des Gerätes selber, aber die Entdeckung der physikalisch-mathematischen Grundlagen des Ansible, jenes Geräts, das es theoretisch dem Botschafter der Ekumene auf Gethen, Genly Ai, möglich gemacht hätte, sofort mit seiner Heimat bzw. mit Hainish Kontakt aufzunehmen. Theoretisch. Weil praktisch schenkt der Idiot es seinen Gastgebern auf Gethen und muss es auf seiner Flucht vor ihnen zurück lassen.) Es ist ein detailliert und klug geschriebener Entwicklungsroman, aber auch eine kritische Schilderung einer Utopie, die anders als andere Utopien nicht – wenn einmal erreicht – starr und unbeweglich bleibt, sondern immer wieder von Neuem errungen werden muss. Darauf war ich als junger Mann bei meiner ersten Lektüre nicht vorbereitet.

Ein Wort noch zur Übersetzung des Titels. Warum bei vermeintlich trivialen Büchern jede/r Übersetzer/in das Gefühl hat, den Titel erneut und natürlich völlig anders als die Vorgänger und Vorgängerinnen übersetzen zu müssen, entzieht sich meinem Verständnis völlig. Der früheste deutsche Titel, Planet der Habenichtse, legt zwar das Gewicht allzu sehr auf die Welt von Anarres, kann aber meinethalben durchgehen. Immerhin stammt ja der Protagonist von dort und hat auch immer wieder mit seiner Herkunft zu kämpfen. Die Enteigneten ist eine der möglichen wörtlichen Übersetzungen des englischen „dispossessed“, hat aber den Nachteil, dass diese Übersetzung eine Ambivalenz auflösen muss, die das Englische der Autorin erlaubte, weil die deutsche Sprache hier Singular und Plural deutlich unterscheidet: Es ist im Englischen nämlich keineswegs klar, wer hier dispossessed ist: mehrere, also die Bewohner von Anarres? Oder ist es doch nur ein einziger, Shevek, der zwischen zwei Welten hin und her gerissen, auf keiner wirklich zu Hause ist? (Ich tendiere zu letzterem.) Zu Freie Geister, dem neuesten Elaborat, was die Übersetzung des Titels betrifft: Da weiß ich definitiv nicht, wie man auf so etwas kommt. „Freigeist“ war die Übersetzung des englischen „free thinker“, womit im 17. und 18. Jahrhundert mehr oder weniger euphemistisch Leute gemeint waren, die des Atheismus oder Agnostizismus verdächtigt wurden. Zwar gibt es offenbar auf Anarres keine Religion. Shevek hatte auf Urras größte Schwierigkeiten mit dem Wort „Hölle“, das dort als Schimpfwort verwendet wurde („Hell!“), weil er dessen religiöse Implikation nicht verstand. Aber Religion, bzw. deren Fehlen, ist eines der minderen Themen des Romans. (Und mich persönlich erinnert „Freie Geister“ eher an Whisky-Degustationen…)

Alles in allem ein sehr lesenswerter Roman, selbst wenn man Le Guins Utopie nicht teilt.

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