1671, vier Jahre nach Paradise Lost, erschien Paradise Regained. Es ist mit nur vier Büchern bedeutend kürzer als sein Vorgänger. Das Ganze erweckt im Leser den Eindruck, als hätte John Milton noch ein Schwanzstück (wie Jean Paul sagen würde) zu Paradise Lost verfasst. Auch in Paradise Regained verwendet er den epischen Blankvers, und auch hier stützt er sich auf einen biblischen Text. Mit dem wieder gewonnenen Paradies würde man als Leser wohl eher Jesu Tod am Kreuz assoziieren – den Moment also, als der Sohn Gottes mit seinem aktualen Tod die Sünden des Menschen bzw. dessen Bestrafung für die Erbsünde auf sich genommen und so die Menschheit davon erlöst hat. (Wie es ja übrigens zum Schluss von Paradise Lost Adam in einer prophetischen Schau durch den Erzengel Michael versprochen worden ist.)
Umso größer ist das Erstaunen eines unvorbereiteten Lesers, wenn er sieht, dass Milton eine ganz andere Geschichte erzählt. Er bleibt zwar in den Evangelien (Lukas, wenn ich mich recht erinnere), wählt aber die viel früher sich ereignende Versuchung Jesu durch Satan in der Wüste aus. Eingeführt wird sie durch die Erzählung, wie Jesus an den Jordan geht, um sich von Johannes dem Täufer taufen zu lassen. Bei diesem Akt öffnet sich der Himmel, der Heilige Geist steigt in Form einer Taube auf Jesus herab und eine Stimme verkündet, dass dieser Mann hier, Jesus, sein, Gottes, eingeborener Sohn sei. (Es ist hier übrigens, wenn ich das richtig sehe, das erste und auch einzige Mal, dass Milton in seiner Paradieses-Dilogie den dritten der Trinität, den Heiligen Geist, erwähnt.) Jesus geht nach der Taufe in die Wüste; Johannes verschwindet von der Bildfläche; Auftritt Maria, Jesu Mutter, sie weiß nicht so recht, ob sie sich nun um ihren verschwundenen Sohn Sorgen machen müsste – sie erinnert sich an einige Begebenheiten aus dessen Kindheit und Jugend (was Milton die Gelegenheit gibt, sie durch diese Retrospektive auch dem Leser vorzuführen) und beruhigt sich; Andreas und Simon, die bei der Taufe dabei waren, fragen sich ebenfalls, wo Jesus denn nun hingekommen sei – da hatten sie endlich den lange versprochenen Messias gefunden, und nun ist er schon wieder verschwunden! (Hier übrigens hat Milton – nicht ungeschickt – die Messias-Erwartung der beiden zukünftigen Jünger sich noch auf rein weltliche Erlösung vom Joch der Römer beziehen lassen.)
Jesus aber irrt 40 Tage lang durch die Wüste. Dabei fragt er sich, warum und wohin es ihn denn treibe. Hier ist der Leser ein wenig irritiert, aber Milton versucht offensichtlich, die Spaltung der Person Jesus in eine menschliche und eine göttliche Seite dem Leser nachvollziehbar zu machen. (Letzten Endes geht das logisch-rational nicht; und wir haben hier ja auch keine theologische Abhandlung vor uns. Aber Milton ergreift auch noch einmal die Gelegenheit für eine weitere Retrospektive auf das Leben Jesu. Somit haben wir zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger den gesamten Inhalt der Evangelien bis zur Taufe im Jordan rekapituliert.)
Mit der Hinwendung zur Figur Jesus verlässt der Autor die profane Menschheit. Es wird nun Satan eingeführt, der im Kreis seiner Unterteufel sich überlegt, wer dieser „Sohn Gottes“ sein könne. Die Teufel residieren unterdessen nicht mehr (nur) in der Hölle, sondern haben die vier Elemente an sich gerissen. Ihr Lieblings-Element ist die Luft. Hier, verborgen in einer dunklen Wolke, beraten sie sich. Satan, ihr oberster Herr, verweist – nicht zu Unrecht – auf den Umstand, dass in vielen Texten des Alten Testaments auch Engel, ja sogar die Menschen, als Söhne Gottes bezeichnet werden; dass dieser Sohn Gottes hier der Sohn Gottes sein könnte, wegen dessen Erscheinen er seinerzeit gegen Gott rebellierte, scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen. Er hält diesen Sohn Gottes für eine untergeordnete, ihm an Kräften wahrscheinlich unterlegene, bestenfalls gleich gestellte Kreatur. Immerhin war er ja seinerzeit nicht irgendein Engel, sondern deren erster. (Mit solchen Überlegungen macht Milton – wieder nicht ungeschickt – das eigentlich hanebüchene Unternehmen Satans rational verständlich – nämlich, dass er, Satan, den Sohn Gottes, Teil der Trinität, in Versuchung führen will.)
Der Rest des Epos besteht nun aus dem Dialog zwischen Jesus und seinem Versucher. Immer mehr, immer Größeres verspricht der Teufel. Er beginnt damit, dass er Jesus – der unterdessen 40 Tage lang gehungert und gedürstet hat, und dessen menschlicher Körper das zu spüren anfängt – dass er Jesus einen mit ausgesuchtesten Esswaren und Getränken gedeckten Tisch präsentiert. (Es fällt auf, dass – während Adam und Eva den Erzengel Raphael vor ihrem Sündenfall noch vegan bewirteten – von Satan nun Braten und Fisch hingestellt werden. Und an der Stelle von alkoholfreien Fruchtsäften steht nun Wein bereit.) Jesu Antwort ist schon bei der ersten Versuchung und auch im Folgenden immer sinngemäß diese: „Ich habe selber Macht genug, mir zu besorgen, was du mir anbietest. Aber als Sohn Gottes verachte ich diese irdischen Dinge und Genüsse und brauche sie gar nicht.“ Zu Beginn ist Satan noch wenig beeindruckt; er weist Jesus darauf hin, dass auch er, Satan, ein Sohn Gottes genannt worden sei, ja, dass er noch immer von Zeit zu Zeit vor Gottes Angesicht erscheinen dürfe. (Er bringt dabei die gleichen Beispiele, die schon für Petrus Abaelard ein theologisches Ärgernis waren: Dass der Böse offenbar in göttlichem Auftrag dem israelischen König Ahab 400 falsche Propheten präsentieren durfte, oder dass er im Zwiegespräch mit Gott die Erlaubnis erhielt, den armen reichen Hiob zu quälen. Ob diese Beispiele schon vor Abaelard, vielleicht durch ihn, oder ohne seinen Einfluss nach ihm, ins Standard-Repertoire der theologischen Diskussion des absolut Bösen eingeflossen sind, entzieht sich meiner Kenntnis.) Aber, fährt der Teufel fort, wenn ihm, Jesus, gutes Essen und feiner Wein zu wenig seien, könne er ihm auch eine große weltliche Macht auf der Erde verschaffen, wie sie zum Beispiel Alexander oder Scipio gehabt hätten. Er könne ihn, an der Stelle von Tiberius, zum Herrscher Roms machen. Jesu Antwort bleibt die gleiche. Satan, der daraus schließt, dass er offenbar eher einen vergeistigten Typ vor sich habe, bietet ihm nun in Athen die Nachfolge an eines Sokrates, eines Platon, eines Aristoteles – oder, falls er mehr zur zweifelnden Sorte gehöre, eines Pyrrhon. Die Akademie, die Peripatetik – alle philosophischen Schulen ständen ihm offen. Damit zeigt Milton, nebenbei gesagt, das übliche Verständnis der Philosophie als Teufelszeug – eine Ansicht, die die Theologen noch im 17. Jahrhundert lehrten und gelehrt erhielten. Auch die philosophischen Ehren weist Jesus mit dem bereits geschilderten Argument zurück. Zusätzlich lässt er eine Invektive gegen den lasterhaften Epikur und seine Schule einfließen, die zeigt, dass der Mann Jesus so allwissend nicht gewesen sein kann, wie er Satan gegenüber vorgibt.
Da auch dieser letzte Versuch misslingt, hat Jesus nicht nur für sich selber den Teufel überwunden, sondern auch für die gesamte Menschheit – wie es Michael einst dem Stammvater der Menschheit versprochen hatte. Finis operis.
Der allwissende, ergo göttliche, Erzähler, der nicht nur Beispiele aus der Geschichte bringt, um Stellen zu illustrieren, sondern dafür auch Gestalten und Ereignisse der griechischen Mythologie beizieht, und den wir so aus Paradise Lost kennen, ist noch immer vorhanden. Dennoch stellt Paradise Regained meiner Ansicht nach wirklich zu Recht ’nur‘ eine Coda zum ungleich berühmteren Paradise Lost dar – dabei spielt es keine Rolle, ob Milton sie nun von Anfang an geplant hatte, oder erst von fleißigen Lesern darauf hingewiesen wurde, dass da etwas fehle. Der Text ist auch zu Recht weniger bekannt, als sein größerer und älterer Bruder, weist aber ein paar feine meta-argumentative Passagen aus und lohnt eine Lektüre dennoch.