Petrus Abaelard: Collationes sive Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum / Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen

Historisch gesehen handelt es sich beim vorliegenden Dialog zur religiösen Toleranz von Abaelard um den ersten in der Reihe der großen drei, die kirchliche oder scholastisch geschulte Denker hervorgebracht haben. Niklaus von Kues‘ De pace fidei habe ich bereits vorgestellt; den Text von Ramon Llull muss ich nach dem Umzug erst wieder finden…

Abaelard hat für seinen Dialog ein anderes Vorgehen gewählt als der Kusaner – sein Problem ist auch ein anderes, auch wenn die Lösung (Aufruf zur Toleranz zwischen den großen monotheistischen Religionen) die gleiche oder zumindest eine ähnliche ist. Abaelards Problem ist nämlich ein primär ethisch-moralisches. Sein Dialog dreht sich um die Frage des höchsten Glücks – die seiner Meinung nach zweifellos im Angesicht Gottes zu finden ist. Vor dieses Angesicht darf der Mensch aber nicht nur erst treten, wenn er gestorben und wieder auferstanden ist, es ist auch notwendig, dass ihm seine Sünden vergeben worden sind. Womit wir auf den Kern des Dialogs (und des theologischen Denkens zumindest des alten Abaelard) gestoßen sind: Was ist Sünde? Was ist ‚das Böse‘? Abaelards Schriften wurden unter anderem auch deswegen von Papst und Kirche verbrannt, weil er auf diese Fragen eine sehr heterodoxe Antwort gefunden hatte. Er vermischt diese Fragen mit der eng verwandten nach dem Grund oder der Art und Weise, wie bzw. wieso Gott (der ja der Gute ist, der Weise und Allmächtige) das Übel, die Sünde, hat in die Welt kommen lassen, und – schlimmer – wie es zu erklären ist, dass Gott offenbar in vielen Fällen mit dem Bösen zusammen arbeitet. Er verwendet den Bösen, um Judas dahingehend zu verführen, Jesus zu verraten – damit dieser wiederum durch sein Leiden und seinen Tod die Menschheit von der Erbsünde erlösen kann. Gott verwendet im Alten Testament bewusst falsche Propheten, um das Volk Israel in die Irre zu führen. Im Buch Hiob ist es der Teufel, der dem Protagonisten alles wegnimmt; Hiob aber sagt: Der Herr hat’s gegeben; der Herr hat’s genommen. [Meine Hervorhebung.] Der Herr – nicht der Teufel! Und so viel der Herr zum Schluss auch, wenn er als Deus ex machina auftritt, Hiob und seine Freunde zurecht weist und ihre Aussagen korrigiert: Diese wird so stehen gelassen, scheint also korrekt zu sein. Dass die orthodoxe Kirche so etwas lieber nicht diskutieren wollte, ist klar, aber Abaelard ließ es keine Ruhe: Wie ist es möglich, wie kann ich Menschlein einsehen, dass es a) unumgänglich und b) Gottes Ruhm als des allguten Herrschers nicht abträglich ist, wenn eben dieser Gott sich des Bösen bedient, um das Gute zu schaffen?

Abaelard fand den Ausweg, dass er zwei Aspekte des Bösen unterschied: Einerseits gibt es für ihn die Sünde an sich, die immer ethisch böse ist. Ein Verrat zum Beispiel ist immer moralisch zu verurteilen. Es gibt aber auch den aktualen Aspekt: das Momentum der Handlung. Der Mensch kann Böses tun, ohne sich im Akt des Tuns (oder auch später) bewusst zu werden, dass diese seine Handlung moralisch verwerflich sein könnte. Mit dieser einen Unterscheidung löst Abaelard verschiedene ethische Probleme. Da sind zum Beispiel die Neugeborenen, die sterben, bevor sie getauft werden konnten. Die orthodoxe Kirche verdammt sie. Für Abaelard sind sie gerettet, denn sie sind sich ja beim Sterben nicht dessen bewusst, dass sie hier einen verdammenswerten Akt ausführen. Viel wichtiger – und hier wäre Abaelard wohl wieder auf den Toleranzgedanken eingebogen, wenn er die vorliegende Schrift vor seinem Tod hätte beenden können – viel wichtiger aber war die Anwendung auf die Juden. Schon zu seiner Zeit wurden die Juden verfolgt, und zwar aus dem Grund, dass sie (was, nebenbei, in der Bibel so nicht steht) Jesus ans Kreuz geschlagen hätten. Abaelard scheint dieses Ans-Kreuz-geschlagen-Haben zu akzeptieren, aber er argumentiert, dass sich die Juden damals wie heute diesbezüglich keiner speziellen Schuld bewusst sind, keiner Schuld bewusst sein können, halten sie doch damals wie heute den ans Kreuz Geschlagenen für einen einfachen Menschen und nicht für den Sohn Gottes und den versprochenen Messias. Sie haben mit der Kreuzigung Jesu also zwar etwas Böses getan, sind aber selber keiner Sünde schuldig. Sie dafür zu verfolgen, ist für Abaelard seinerseits ein verwerflicher Akt.

Abaelard hat im Übrigen seinen Dialog etwas anders eingerichtet als Nikolaus von Kues. Zwar kennt auch er die mystische Versetzung in einen Traum, in dem der Dialog dann stattfindet. Hier wird der Träumende von einem Philosophen, einem Christen und einem Juden angesprochen, die einen Schiedsrichter für ihr Problem (des höchsten Guts bzw. des Bösen in der Welt) suchen. Die Hauptlast des vorhandenen Textes liegt auf dem Dialog zwischen dem Christen und dem Philosophen; dem Juden, der als erster mit dem Philosophen diskutiert, wird relativ rasch nachgewiesen, dass sein Haften-Bleiben am alten Gesetz rigide Unmoral zur Folge habe. Der Christ seinerseits kann dem Philosophen besser das Wasser reichen. Er kann ihm sogar nachweisen, dass dessen auf die antike Philosophie zurückgehendes Naturrecht, die aristotelische Ethik vor allem, den moralischen Problemen der Zeit und des Christentums ebenso wenig gerecht wird, wie das Gesetz der Juden.

Abaelard ist einer der frühen Vertreter eines auf die Vernunft als letzter, entscheidender Instanz rekurrierenden Denkens. So kommt es wohl auch, dass er statt des ansonsten in diesen Toleranz-Dialogen üblichen Muslims einen weltlichen Philosophen als dritten Mann eingeführt hat. (Denn der träumende Abaelard selber greift nicht in die Diskussion ein – er sollte zum Schluss den Schiedsrichter zwischen den Parteien spielen. Diesen Schluss konnte Abaelard allerdings nicht mehr schreiben.) Wohl wird in zwei oder drei Anspielungen angedeutet, dass es sich beim Philosophen um einen Muslim handeln könnte; aber im Frankreich des beginnenden 12. Jahrhunderts kannte man den Islam zu wenig; der Koran zum Beispiel war noch gar nicht übersetzt. Abaelard wird auch deswegen auf den Muslim verzichtet haben. Selbst der um eine Generation ältere arabisch-muslimische Denker Ibn Ṭufaīl war Abaelard wohl kein Begriff, obwohl auch dieser, genau wie er, auf eine Theologie der Vernunft setzte. Beide konnten sich gegenüber ihrer jeweiligen orthodoxen Geistlichkeit bis heute nicht durchsetzen. (Jahrhunderte später sollte ein anderer Vernunft-Denker dasselbe Schicksal erleiden: Gotthold Ephraim Lessing, dem zum Schluss nichts anderes übrig blieb, als sein diesbezügliches Vermächtnis auf der Bühne zu hinterlassen.)

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