Welcher Dämon den Athener Xenophon gepackt haben könnte, als er beschloss, als eine Art Beobachter oder Kriegsberichterstatter an einem persischen Bürgerkrieg teilzunehmen, und dies in Begleitung von rund 12’000 griechischen Söldnern, wissen wir nicht. Über seine Motivation zur Teilnahme verliert Xenophon kein Wort. Er spricht davon, dass er sich dessen bewusst war, dass ihm eine Teilnahme auf Seiten eines Athen nicht gerade wohl gesinnten Persers in seiner Heimatstadt Probleme schaffen würde. (Was es denn auch tat.) Der um Rat gefragte Sokrates empfahl ihm, beim Orakel nachzufragen, ob seine Teilnahme in Ordnung ginge. Xenophon, der offenbar wild entschlossen war, dabei zu sein, fragte beim Orakel nach – nämlich, welchem Gott er opfern müsse, damit er wieder glücklich zurück komme. Sokrates tadelt ihn mild für diese Pervertierung der Fragestellung (jedenfalls in der Darstellung des Xenophon – ich vermute, dass er ihn geistig aus der Liste seiner hoffnungsvollen Schüler gestrichen hat).
Es ging bei diesem Unternehmen um nichts Geringeres als die Macht über das Reich der Achämeniden – das erste persische Großreich. Persien schaltete und waltete damals im Hintergrund (über seine Verbündeten, die Spartaner) in ganz Griechenland. Die aus dem Boden gestampfte Söldnerarmee kämpfte auf Seite des jüngeren Cyrus gegen dessen Bruder und Amtsinhaber Artaxerxes und errang sogar einen Sieg in der Schlacht von Kunaxa. (Ein Sieg, der insofern Signalwirkung hatte, als er anzeigte, dass die Perser nicht so unbesiegbar waren, wie es ihr Ruhm von ihnen sagte. Aber erst Alexander der Große sollte das Jahre später realisieren.) Der Sieg war aktuell allerdings wertlos, denn Cyrus fand in der Schlacht den Tod. Was nun? Die griechischen Söldner konnten sich nicht nur den versprochenen Sold ans Bein streichen – sie hatten auch das Problem, dass sie als, gelinde gesagt: unerwünschte, Fremde in einem Land gestrandet waren, dessen Herrscher ihnen alles andere als Freundschaft entgegenbrachte. Kein Wunder angesichts der Tatsache, dass sie beim Versuch, ihn vom Thron zu stoßen (und wohl auch zu töten) mitgeholfen hatten. Also nach Hause! Aber wie? Versuche, einen Frieden oder Waffenstillstand auszuhandeln, scheiterten; Artaxerxes fühlte sich sicher und stark genug, die griechischen Unterhändler (die zugleich die militärischen Führer der Söldner waren) einfach umzubringen.
Hier nun schlägt – jedenfalls in seiner eigenen Darstellung (und eine andere gibt es nicht vom Zug der Zehntausend) – die Stunde des Xenophon. Er übernimmt mit ein paar anderen die Führung der Armee. Es gelingt ihnen tatsächlich, sich gegen Norden an die Ufer des Schwarzen Meers durchzuschlagen, und dies ohne größere Verluste. Dort, wo die eine oder andere griechische Kolonie angesiedelt war, waren sie vor Artaxerxes in Sicherheit, gerieten aber auch sofort wieder untereinander, nämlich die Athener mit den Spartanern, in Streit … Schließlich gelang Xenophon trotz aller Widerstände und internen Querelen ein vorteilhafter Deal und die Söldner vermieteten sich an der Küste des Schwarzen Meeres weiter.
Xenophons Anabasis ist aus verschiedenen Gründen berühmt. Zum einen wegen seiner (wie ich irgendwo gelesen habe) glasklaren attischen Sprache, die den Text dazu prädestiniert, als erstes Original im Altgriechisch-Unterricht gelesen zu werden (analog zu jenem anderen Kriegsbericht, ebenfalls von einem Feldherren geschrieben, der über sich in der dritten Person erzählt: dem im Latein-Unterricht als jeweils als erstes gelesenen Bellum Gallicum des Gaius Iulius Caesar). Xenophons Schilderung von Land und Leuten, denen die Truppe auf dem Weg an die Küste begegnen, sind offenbar bis heute eine wichtige Informationsquelle für Völkerkundler und Biologen. Militärhistoriker rühmen ihn wegen des einen oder anderen Manövers, das auf sein Geheiß in der einen oder anderen Schlacht ausgeführt wurde, und das von Xenophon wenn nicht als erstem angewendet, so doch als erstem geschildert wurde.
Warum aber der zu jenem Zeitpunkt doch schon bald 30-jährige Xenophon an diesem waghalsigen Unternehmen überhaupt teilnahm, wissen wir bis heute nicht.