Pierre Boulez: «Mémoriale» (… explosante-fixe … Originel) / Wolfgang Rihm: «Concerto» Dithyrambe für Streichquartett und Orchester / Bernd Alois Zimmermann: Rheinische Kirmestänze für 13 Bläser / Arnold Schönberg: «Verklärte Nacht» op. 4, Fassung für Streichorchester

Vor einem blauen Himmel steht links ein Baum und in der Mitte die Spitze eines Springbrunnens, der gerade Wasser spritzt. Rechts sehen wir einen Teil der Fassade eines klassizistischen Gebäudes. Eigene Fotografie.

Für einmal stand beim heutigen Konzert nur Musik aus dem 20. und 21. Jahrhundert auf dem Programm. Genauer gesagt: von Komponisten (keine Frau dabei, leider), die den größten und wichtigsten Teil ihres Schaffens im 20. und 21. Jahrhundert aufzuweisen haben. Darunter sind mit Boulez und Rihm zwei ehemalige Leiter der Lucerne Festivale Academy. Eine Sonderausstellung zu Schönbergs Leben und Werk im selben Haus ergänzte das Programm. Leider fehlte mir die Zeit, diese auch noch zu besuchen.

So oder so war ich gespannt, wie der völlige Verzicht auf ‚klassische‘ klassische Musik ankommen würde. Ich hatte ja im Januar letzten Jahres, als nur Mendelssohn Bartholdy auf dem Programm stand, den Eindruck, überdurchschnittlich viel Publikum, vor allem auch überdurchschnittlich viel älteres Publikum angetroffen zu haben. Im Umkehrschluss müsste das für heute bedeuten, dass weniger Publikum als üblich da sein würde, dieses Publikum aber jünger wäre als der (gefühlte!) Durchschnitt. Gut, da war noch das frühe Werk Arnold Schönbergs, Verklärte Nacht (1899), das der Spätromantik zugerechnet wird, wo, wie mein Programmheft meinte, die explosiven Kräfte der Moderne sich gerade noch ein letztes Mal in einer Überfülle an Tristan-Romantik stauten. Schönberg hat dennoch nicht unbedingt den Ruf eines Romantikers, ob das genügen würde?

Nun, es war dann natürlich ganz anders – und doch wie erwartet: Die Altersstruktur des Publikums war in etwa so wie immer. Aber es gab weniger davon. Viel weniger. Offenbar hatten viele Abonnent:innen das Wagnis des federführenden Orchesters nicht goutiert und sich absentiert. (Nach der Pause gar sollten die Reihen noch lichter geworden sein. Was einerseits schade ist, denn die, die mit der E-Musik des 20. Jahrhunderts wenig anzufangen wissen, hätten im zweiten Teil eher die übliche Kost vorgefunden. Aber vielleicht waren die Leute auch einfach schon müde; ich kann bezeugen, dass die Musikformen des 20. Jahrhunderts geistig sehr anstrengend sind.)

Aber lasst uns am Anfang beginnen:

Pierre Boulez

Pierre Boulez, zu dessen Gedenken das Konzert (mit) eingerichtet worden war, hätte genau an diesem Konzertabend seinen 100. Geburtstag feiern können. Es war also gewissermaßen seine Geburtstagsfeier heute. Das kurze Stück mit dem seltsamen Titel, das aufgeführt wurde, hatte Boulez im Gedenken an den 1971 verstorbenen Igor Strawinsky geschrieben. Mitte der 1980er arbeitete der Komponist an einer maschinellen Umsetzung des Stücks, zusammen mit dem Flötisten Larry Beauregard, der aber 1985 verstarb. Boulez formte das Stück abermals um – dieses Mal zum Gedenken an Beauregard. Es besteht in dieser Fassung vor allem aus einem – sehr melodiösen – Dialog zwischen zwei Flöten. Das Orchester war praktisch auf Kammerbesetzung reduziert. Ich habe die Tendenz, bei Stücken aus dem letzten Jahrhundert immer konkrete Situationen heraus zu hören, und das Duett der beiden Flöten, unterbrochen hin und wieder vom Orchester, erinnerte mich – wohl auch jahreszeitbedingt – an den Gesang der Vögel in der Stadt, an einem frühen Morgen und immer wieder unterbrochen vom Lärmen verschiedener Maschinen und Motoren.

Wolfgang Rihm

Wirklich anstrengend wurde dann Wolfgang Rihms Concerto. Was zunächst ein Rückgriff zu sein scheint auf die traditionelle Form des Solokonzerts, wird von Rihm gründlich auf den Kopf gestellt. Statt eines Solisten / einer Solistin sitzen da deren vier. Anders gesagt: Der Part, den normalerweise Solist:innen übernehmen, wird von Rihm einem Streichquartett übergeben. Das waren dann heute Abend zugleich die Stargäste – nämlich das JACK Quartet aus New York, so benannt nach den ersten Buchstaben der Vornamen der vier Gründer, von denen zwei noch immer dabei sind. Die vier jungen Männer sehen auf den Promo-Fotos ihrer Agentur viel wilder aus als in Wirklichkeit. Wild allerdings war ihre Musik. Wolfgang Rihm beschrieb die Musik seines Concerto einmal folgendermaßen: Sie ist schnelle, dichte Musik, die auf die klassische Form des Concerto verzichtet: Statt eines Dialogs zwischen Streichquartett und Orchester handelt es sich um einen Monolog, geführt von einem Wesen mit vier Mündern – ja, vier Köpfe und vier Münder, ein Biest! Wobei Rihm meiner Meinung nach seinem eigenen Stück Unrecht tut: Das Orchester hält dem Biest mit vier Köpfen und vier Mündern tapfer entgegen – wenn dieses schreit, so schreit jenes durchaus auch dagegen an. So ist es ja nicht. Der Verfasser des zu Konzertbeginn ausgehändigten Fresszettels, Matteo Montesini, spricht in seiner Einleitung davon, dass der obsessive, nervöse Rhythmus und die üppigen Energiewellen an Dithyramben erinnern, jene Hymnen, die im antiken Griechenland bei den ekstatischen, orgiastischen Festspielen zu Ehren des Gottes Dionysos gesungen wurden. Mich für meinen Teil hat es an den – durchaus auch rhythmischen – Lärm einer Maschinenhalle des 20. Jahrhunderts erinnert.

Pause

Wie gesagt: anstrengend war’s; wir hatten uns eine Pause verdient. Diesmal im Wissen darum, was es tatsächlich war, bestellte ich auch heute ein Glas Federweisser und stellte mich in eine Art kleinen Alkoven, um von dort aus ein bisschen das Publikum zu beschauen. Es betraten dann denselben Alkoven ein älteres Pärchen in Begleitung einer noch etwas älteren Dame und schlürften an einem Prosecco (oder, wie es hierzulande heißt: ein „Cüpli“) – Stößchen. Irgendwann tauchte dann noch ein Pärchen auf, und die Fünf bauten sich in einem Kreis auf. Genauer gesagt: Da ich ja immer noch im Alkoven drin steckte, und man mir offenbar nicht das Hinterteil zuwenden wollte (ob, weil man es für unhöflich hielt oder weil man mir misstraute, sei dahin gestellt), belegten diese Leute nur fünf von sechs Kreissegmenten. Für Außenstehende mochte es den Anschein haben, dass ich dazu gehörte. Es störte mich weiter nicht; für meinen Teil amüsierte ich mich damit, zwei jungen Leuten auf der gegenüber liegenden Treppe bei ihrem Balzverhalten zuzuschauen. Verblüffend, wie ähnlich sich doch in dieser Situation alle sehen …

Bernd Alois Zimmermann

Nach der Pause dann nur die Bläser auf der Bühne. Zimmermanns Rheinische Kirmestänze für 13 Bläser waren reine Parodie – eine Satire auf unbegabte Dorfmusiker ebenso wie auf unbedarfte Komponisten. Mal fing eines der kurzen Stücke mit dem Schluss an, mal überdröhnte der Bass die Flöten, mal wiederum diese im höchsten Diskant den Rest – viel zu laut, viel zu schrill. Matteo Montini will sogar Unheimliches darin hören, was ich für meinen Teil aber für übertrieben halte.

Arnold Schönberg

Last but not least Schönberg. Dafür musste erst umgeräumt werden: Blech raus, Streicher rein. In diesem Stück allerdings ist Schönberg noch sehr traditionell unterwegs. Verklärte Nacht entstand auf Basis eines gleichnamigen Gedichts von Richard Dehmel. Dehmel kennt man heute ja vor allem als Lieferanten von Vorlagen für diverse Vertonungen und als Inspiration für den Expressionismus. Im Großen und Ganzen bleibt Schönberg bei seiner Vertonung im Rahmen des Romantischen, mischt aber, vor allem gegen Ende, ein wenig Wagner hinein. Dennoch weist die eine oder andere harmonische Kühnheit (Matteo Montini) bereits auf die atonale Musik voraus und lässt Dehmels Verwandtschaft zum Expressionismus aufblitzen. Dennoch handelte es sich um Musik, die die durch den ersten Teil doch recht aufgewühlten Gemüter zu beruhigen vermochte.

So gingen wir denn nach Hause – wider Erwarten trocken bleibend. (Denn die Wettervorhersage hatte anderes gewollt. Aber die Musen beschützen ihre Freunde und Anhängerinnen.)

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