Das zweite Buch der Essais beginnt gleich mit einem Paukenschlag. Im ersten Kapitel spricht Montaigne von der Inkonsistenz in unseren Handlungen, man könnte auch von einer Inkonsequenz ausgehen. Tatsächlich ist das etwas, das sehr häufig nur im täglichen Leben anzutreffen ist, wie auch Montaigne ausführt: Man benimmt sich heute so, morgen (ja, in einer halben Stunde) anders. Manchmal gibt es (äußere) Gründe dafür, manchmal ist dieses Schwanken einfach eine Eigenschaft unseres Charakters. Die Nutzanwendung für Bücherwürmer ist klar: Wenn – wie es häufig geschieht – KritikerInnen (vor allem nicht-professionelle!) in einem Roman wieder einmal monieren, dass der Charakter XY nicht konsequent sei, sollte man vielleicht auch einmal darüber nachdenken, ob er denn in der Realität konsequent gewesen wäre …
In eine ähnliche Kerbe schlägt viel später in diesem zweiten Buch ein längeres Kapitel (XVII – der Titel gibt, wie fast immer in den Essais, keinen Anhaltspunkt für den eigentlichen Inhalt!), in dem Montaigne (unter anderem – Montaigne mischt immer verschiedene Themen in einen Erzählstrang) sich selber der Inkonsequenz zieht, ebenso wie der Unentschlossenheit und der Vergesslichkeit.
Später (Kapitel III) folgt ein längerer Abschnitt über den Selbstmord (wiederum unter einem Titel, der ganz anderes erwarten lässt) – den Selbstmord, den Montaigne durchaus akzeptabel findet – wenn er denn nämlich erfolgt, um entweder großen Schmerzen bzw. einer unheilbaren Krankheit zu entkommen oder wenn man Selbstmord begeht, um seine Ehre zu bewahren – zum Beispiel, um in einem Krieg nicht in die Hände eines Feindes zu fallen und dabei von diesem auf die eine oder andere Art entehrt zu werden. Wie immer unterfüttert Montaigne seine Ansichten mit vielen Anekdoten aus der Antike und aus der französischen Geschichte. Das Ganze nimmt er nochmals auf in einem anderen Kapitel (XIII – abermals mit einem Titel, der ganz anderes erwarten lässt), wo er vor allem von den Schwierigkeiten spricht, den einmal gefassten Entschluss, sich selber den Tod zu geben, auch tatsächlich umzusetzen.
Auch die Gegenwart kommt vor in den Essais. Für einmal bleibt Montaigne sogar ganz bei sich, wenn er davon erzählt, wie er in der Nähe seines Heims von gegnerischen Soldaten angefallen wurde – es war in jenem religiösen Bürgerkrieg, in den sich Frankreich damals verwickelt hatte, und Montaigne hatte zunächst nicht realisiert, dass die Franzosen, mit denen er da plauderte, aus dem gegnerischen Lager stammten. Wie sollte er auch? Sie sprachen die gleiche Sprache, beachteten die gleichen Gesetze, wie er.
Ein anderes Kapitel (X) ist den Büchern gewidmet. Darin gibt Montaigne seine Meinung ab zu praktisch allen Autoren der Antike – und zwar eine fundierte und kluge Meinung, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass doch dieser oder jener ein ‚Klassiker‘ sei und deshalb automatisch ‚gut‘. Dabei gibt er zu, dass er sich nicht lange mit schwierigen Passagen in einem Buch herumschlage / herumschlagen könne. Er mache nichts, bei dem er keinen Spaß habe, und was er nicht beim ersten Anlauf verstehe, werde er nie verstehen, weil jede zusätzliche Konzentration auf eine solche Passage nur eine Art geistige Verkrampfung in ihm hervorrufe, die ihm dann nicht nur den Spaß verderbe, sondern ihn erst recht daran hindere, die in Frage kommende schwierige Passage zu verstehen. Er liebe die Bücher, die gefallen, und zählt als Beispiele unter anderen Boccaccios Decamerone auf und den Rabelais. (Während er die damals in Frankreich in Schwang stehenden Feen-Märchen nicht mag.) Was als ein oberflächlicher, flüchtiger Leser zu sein scheint, ist also in Tat und Wahrheit durchaus ein Mann von Anspruch an seine Lektüre, und ich empfehle jedem, der die ‚Klassiker‘ (egal ob die antiken oder die späteren) einfach mal so und global lobt, dieses Kapitel X zu lesen.
Nicht zu vergessen: der überlange Essai Apologie de Raimond Sebond, die Nummer XII im zweiten Buch, beinahe 160 Seiten in meiner Ausgabe (deren Seitengröße in etwa A4 entspricht – es ist also ein sehr langer Essai). Ramon Sibuada war ein katalanischer Theologe, der von ungefähr 1385 bis 1436 lebte. In Barcelona zur Welt gekommen, war er später Professor und mehrfach Rektor an der Universität Toulouse. Er verfasste ein Liber creaturarum (später auch Theologia naturalis genannt), in dem er ausgehend vom Maximitätsprinzip Anselms von Canterbury (Gott ist das, worüber hinaus größeres nicht gedacht werden kann – eine Variation des ontologischen Gottesbeweises) und unter Einbezug der Logik des Ramon Llull versuchte, die christlichen Glaubensinhalte primär aus der Naturerkenntnis abzuleiten und erst in zweiter Linie aus der Heiligen Schrift, da das Buch der Natur seiner Meinung nach nicht nur von Gott direkt geschrieben wurde (das gilt für die Heilige Schrift ja auch), sondern im Gegensatz zu dieser nicht verfälscht wurde und – ganz wichtig! – nicht nur Klerikern, sondern auch Laien zugänglich ist. Sibuadas Buch hat Montaigne (bzw. nach Essai N° XII seinen Vater) derart beeindruckt, dass er es 1569 ins Französische übersetzte, obwohl es bereits seit 1564 auf dem Index Librorum Prohibitorum der katholischen Kirche stand. Montaigne spricht in diesem Essai allerdings nur zu Beginn direkt über das Buch Sebonds, später wird es allenfalls noch ein paar Mal erwähnt. Ansonsten geht es in der Apologie im wahrsten Sinne des Wortes um Gott und die Welt. Montaigne streift den Atheismus, der in Sebonds Buch verborgen sei, ebenso, wie er zeichentheoretische Überlegungen anstellt (tatsächlich muss das Buch der Natur ja auch irgendwie gelesen, d.h., deren Zeichen interpretiert werden). Einen langen Exkurs widmet er der (Natur-)Philosophie der Antike, einen fast ebenso langen Fragen, die wir heute als ‚anthropologisch‘ klassifizieren würden. Bei alledem argumentiert Montaigne immer als gebildeter Laie; nirgends untersteht er sich, den Theologen theologisch zu begegnen – Anselm von Canterbury oder Ramon Llull erwähnt er mit keiner Silbe. Und von „Exkursen“ zu sprechen, ist im Prinzip ja falsch, denn auch dieser Essai besteht, wie alle anderen, eigentlich nur aus Exkursen.
Und, ja: Essai N° XII heisst Apologie, ist aber de facto eine Kritik der Darstellungen des Raimundus Sabundus. Auch das ist Montaigne … Ebenso lautet der Titel des letzten Essais von Buch II (er trägt die Nummer XXXVII) in meiner Übersetzung Von der Ähnlichkeit der Kinder zu ihren Vätern – ein Thema, das Montaigne rasch verlässt, um (über den Umweg, dass er, Michel de Montaigne, unterdessen ebenso an Gallensteinen leidet, wie es sein Vater getan hat, allerdings in jüngeren Jahren als dieser) auf die Heilkunst zu kommen. Beziehungsweise, auf die Ärzte. An denen er kein gutes Haar lässt: einander widersprechende Diagnosen, sinnlose Medikationen (oder auch harmlose, oder auch lebensgefährliche) – nichts lässt Montaigne aus, was man der damaligen Medizin vorwerfen konnte. (Aus heutiger Sicht müssen wir sagen: zu Recht vorwerfen konnte. Man war im 16. Jahrhundert tatsächlich besser daran, im Krankheitsfall auf ärztlichen Beistand zu verzichten. Die Hausmittelchen einer alten Vettel im Dorf nebenan waren so gut oder so schlecht, wie das, was die damaligen Ärzte verschrieben.) So endet das zweite Buch schon beinahe satirisch – wenn das Thema nicht im wahrsten Sinne des Wortes todernst gewesen wäre.
In Abwandlung eines bekannten Witzwortes über die Ehe kann man sagen, dass die Theologie das Bemühen ist, Probleme zu lösen, welche man ohne die Theologie gar nicht hätte. Unter all den antiken Meinungsäußerungen, die Montaigne so fleißig abschreibt, befindet sich auch diese:
„Strato, que c’est nature ayant la force d’engendrer, augmenter et diminuer, sans forme et sentiment.“
Das ist ausnahmsweise ein vernünftiger Satz. Demgemäß hätte Montaigne sich und uns seinen ellenlangen Sermon ersparen können. Dabei ist es erstaunlich, wie selbstverständlich der Sieur annimmt, wenn etwa Platon oder Seneca von (einem) „Gott“ reden ohne zu spezifizieren, wäre das derselbe wie der von der römisch-katholischen Kirche approbierte. Sogar der Plural stört ihn nicht, auch hart nebeneinander:
„/Melius scitur Deus nesciendo/, dit saint Augustin. Et Tacitus, /Sanctius est ac reuerentius de actis Deorum credere quam scire./“
Und es kommt noch krasser:
„Cleobis et Biton, Trophonius et Agamedes, ayant requis ceux-là leur Déesse, ceux-ci leur Dieu, d’une récompense digne de leur piété, eurent la mort pour présent : tant les opinions célestes sur ce qu’il nous faut, sont diverses aux nôtres.“
Da demnach der wahre Gott an Hera und Apollon gerichtete Gebete erhörte, obwohl in besagten Fällen nicht ganz im Sinne der Betenden, hätte es die Polemik der Kirchenväter gegen den Götzendienst der blinden Heiden nicht gebraucht, ebenso wie die im selben Essai dann doch noch erfolgende Abgrenzung:
„Ô Dieu, quelle obligation n’avons-nous à la bénignité de notre souverain créateur, pour avoir déniaisé notre créance de ces vagabondes et arbitraires dévotions, et l’avoir logée sur l’éternelle base de sa sainte parole ?“
Warum also zitiert Montaigne nur selten die Heilige Schrift, aber am laufenden Band Werke von in umherirrend willkürlicher Frömmigkeit Befangenen?
Was er von deren Spekulationen über ihr Pantheon referiert, ähnelt mitunter neueren Versuchen, wenn schon nicht den weißen Bart, doch immerhin den Begriff zu bewahren, auch wenn sich solche Denker darunter weiß Gott etwas anderes vorstellen als die ursprünglichen Erfinder, sofern sie sich darunter überhaupt etwas vorstellen. Derartige Notbehelfe hat bereits Sigmund Freud angemessen abgefertigt:
„Man möchte sich in die Reihen der Gläubigen mengen, um den Philosophen, die den Gott der Religion zu retten glauben, indem sie ihn durch ein unpersönliches, schattenhaft abstraktes Prinzip ersetzen, die Mahnung vorzuhalten: Du sollst den Namen des Herrn nicht zum Eitlen anrufen!“ (Das Unbehagen in der Kultur, II)