Mit dem II. Buch hat Uwe Johnson seinen Erzählrhythmus endgültig gefunden. Tag um Tag erzählt er aus dem Leben von Gesine Cresspahl in New York, beginnend mit dem 20. Dezember 1967 bis zum 19. April 1968. In diesem Zeitraum liegt das Weihnachtsfest (über dessen kitschige US-amerikanische Version sich Gesine immer noch wundert, während die Oster-Feiertage praktisch wortlos vorüber gelassen werden), liegen Versprechen der US-amerikanischen Administration zur Reduzierung der Beteiligung am Vietnamkrieg (die aber ständig gebrochen werden), liegt der öffentliche Verzicht Lyndon B. Johnsons auf eine weitere Amtszeit als Präsident, liegt aber auch die Ermordung von Martin Luther King. Diesem Ereignis widmet der Autor Worte, die – wohl im Sinne überhörter Gesprächsfetzen zu verstehen – diesen Mord aus der Sicht des kleinen (des ganz, ganz kleinen!) Mannes kommentieren. Mehr gibt es auch da nicht – was nun durchaus als gelungener Trick des Autors durchgehen kann, denn so funktioniert es tatsächlich mit der menschlichen Aufmerksamkeitsspanne.
Erzähltechnisch, also formal, laufen die Tage unterdessen immer ähnlich ab: Der Tag beginnt normalerweise mit einem kurzen Blick auf die wichtigsten nationalen und internationalen Ereignisse – meist als Zitat aus der New York Times oder dann zumindest als Zusammenfassung von deren Berichten. Dann üblicherweise ein Blick auf das aktuelle Leben Gesine Cresspahls in New York. So erfahren wir zum Beispiel, dass sie fleißig Tschechisch lernt, auf Geheiß der Bank, bei der sie arbeitet, und dass sie in die Teppichetage dieser Bank aufgestiegen ist. Die genauen Pläne der Bank kennt sie nicht oder gibt uns Lesenden dies zumindest vor.
Den Schluss eines Tages macht dann die Fortsetzung der Geschehnisse in Deutschland. Auch da ist Johnson unterdessen in ruhiges Fahrwasser gekommen. Während er ganz am Anfang von Teil I noch – man ist versucht zu sagen: wild – verschiedene Zeitebenen vermischte (Gesines Vater in der Weimarer Republik, Gesines Familie im Dritten Reich, Gesine in der DDR und in der BRD), so erzählt Gesine nun ihrer Tochter Marie geordnet und chronologisch. So ein Vorgehen vereinfacht uns Lesenden das Leben ebenso wie wohl auch dem Schreibenden, das gebe ich zu. Aber das an und für sich formal Interessante (auch wenn’s mich arg an John Dos Passos erinnert hatte) geht damit verloren.
Auch das Authentische natürlich. Denn, seien wir ehrlich: Kein Mensch erinnert sich chronologisch. Man springt – auch unter dem Erzählen – in der Zeit vor und zurück und lässt sich gern von Assoziationen leiten, die dem Gegenüber manchmal unerklärlich sind. Auch scheint Johnson bemerkt zu haben, dass er sich im I. Buch zu viel Zeit gelassen hat. Er hat praktisch 400 Seiten damit verbracht, die Vorgeschichte von Gesines Geburt zu erzählen. Das erinnert zwar ein bisschen an die Erzählung derselben Vorgeschichte durch Tristram Shandy – nur, dass Sterne der bei weitem witzigere Autor ist. Dem sei, wie dem ist. Auf jeden Fall beginnt Johnson nun sich zu beeilen. Gesine kann noch nicht richtig sprechen, schon schreiben wir das Jahr 1937. Dann 1938. Dann der Zweite Weltkrieg. Wir kriegen kaum richtig mit, wer wann so eingezogen wurde, schon haben die Briten Jerichow befreit. Und gleich den Sowjets übermacht – für ihren Anteil an Berlin. Wurde in Band I die langsame Ausgrenzung der Juden im Detail (und man ist versucht zu sagen: con amore) referiert, so verschwinden sie nun mehr oder weniger unerklärt von der Bildfläche.
Mag sein, Johnson wollte damit andeuten, wie unangenehme Erinnerungen überdeckt und verdrängt werden, so, dass nur noch Rudimente vorhanden sind. Selbst der Tod der Mutter Gesines bleibt rätselhaft. Mord oder Selbstmord aus Reue darüber, den Mann dahin gebracht zu haben, aus England zurück nach Mecklenburg gekehrt zu sein? Jedenfalls beschließt Cresspahl, die Tochter bei sich zu behalten. Bevor er sich endgültig in Jerichow niederlässt, unternimmt er mit ihr eine längere Reise – wohin sie ging, will Gesine vergessen haben. Vielleicht nach England, jedenfalls ist sie nun (in New York) felsenfest davon überzeugt, dass sich ihr Vater in England als Spion hat anheuern lassen und während des Kriegs alle wichtigen Bewegungen auf dem nahe liegenden Fliegerstützpunkt nach Großbritannien gemeldet hat.
Selbst ihrer Tochter Marie (muss der Autor zugeben) scheint dies äußerst unwahrscheinlich und sie protestiert gegen diese Wendung der Geschichte. Sollen wir das als Ironie-Signal nehmen? Ich zögere, denn es will mir zu wenig erscheinen. Irgendwie ist es halt doch nur eine weitere Geschichte, wie sie später im deutschen Westen (und ich nehme an, auch in Ostdeutschland) so häufig erzählt wurde, wo, wenn man allen glauben wollte, alle (bzw. später dann alle Väter und Mütter) nicht nur keine Nazis oder auch nur relativ harmlose Mitläufer gewesen waren sondern sogar aktiv „im Widerstand tätig“. Ich jedenfalls verspürte beim Lesen ein pelziges Gefühl auf der Zunge. (Und ja: Ich erlaube mir – obwohl mit der „Gnade der späten Geburt“ versehen und der Gnade, Bürger eines Landes zu sein, das (bei allen problematischen Vorkommnissen zu jener Zeit und es gab deren viel zu viele!) in der riesigen Mehrheit seiner Bevölkerung gegen nationalsozialistische oder faschistische Versuchungen immun geblieben ist – ich erlaube mir, diese Haltung, die im Nachkriegsdeutschland viel zu lange eine mangelnde Aufarbeitung der Ereignisse überdeckte, die selbst in der Literatur (zum Beispiel von der sich links gerierenden Gruppe 47) als ‚state of the art‘ propagiert wurde und deshalb so sehr die deutsche Literatur (auch der DDR) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte, und eine Haltung ist, die Deutschland jetzt einholt – diese Haltung anzuprangern, erlaube ich mir.)
Ganz zum Schluss – um zum Roman zurück zu kehren – findet sich in meiner Ausgabe ein separat paginierter Anhang: Mit den Augen Cresspahls. Das ist im Grunde genommen aber eine Zusammenstellung der Verwandtschaftsverhältnisse in Jerichow. So etwas mag für den Autor als Memento nützlich sein; warum es – als Notiz Cresspahls verkleidet – 1971 als Anhang hinzugefügt wurde, kann ich nicht beurteilen. Vielleicht einfach ein Fall von deutscher Allzu-Gründlichkeit? Ich stelle mir das Gleiche gerade in der Suche nach der verlorenen Zeit vor oder in Ulysses …
Der Stil von Band II ist im Übrigen derselbe geblieben wie der von Band I. So wirkt das Ganze meiner Meinung nach etwas schematisch und monoton. Aber genau dieser Schematismus und diese Monotonie wiederum erzeugen einen Sog, der macht, dass man Seite um Seite weiterliest. Insofern wohl wirklich große Literatur – wenn auch nicht ganz, ganz große.
Ich habe offenbar sehr viel weniger auf mögliche Inkonsistenzen in der Erzählstruktur achtgegeben, das Collagenhafte scheint ja auch gewollt, andere Ungereimtheiten sind möglicherweise auf den Entstehungszeitraum zurückzuführen (Johnson hat ja fast bis zu seinem Tod an diesem Roman – letztlich unter finanziellem Druck – geschrieben). Aber – wie gesagt – das hat mich eigentlich nicht tangiert, im Gegenteil: Diese Uneinheitlichkeit macht für mich einen Teil des Reizes aus, den der Roman auf mich ausgeübt hat.
Noch am ehesten hat mich das Ende von DE gestört: Dieser Tod schien aufgesetzt, bezugslos zur Handlung, wie überhaupt man im letzten Teil die – teils – vergeblichen Bemühung zu spüren glaubt, alle Fäden zusammenzuspinnen bzw. zusammenzuhalten. Aber im Grunde waren das für mich Nebensächlichkeiten, ich habe den von dir beschriebenen Sog verspürt und gänzlich – ohne von des Gedankens Blässe angekränkelt – den Roman einfach genossen. Es klingt ein wenig nach billiger Beschönigung: Aber das Disparate des Romans, die Brüche habe ich nicht als störend, manchmal sogar als Qualität empfunden.
Was den Tod der Mutter Gesines angeht: Es bleibt zwar (bewusst?) ein wenig unklar, aber hier ist wohl von Suizid auszugehen: Die Predigten des Pastors, die Schwierigkeiten beim christl. Begräbnis deuten darauf hin (zumindest darauf, dass die Personen im Buch das annahmen). Wie auch – immer fun-fact am Rande: Ich, der ich mit Chat-Gpt eigentlich so gar nichts am Hut habe, aufmerksam geworden erst durch die Begeisterung meines Nachwuchses für Hausübungen, dann durch Giesberts kritische Stellungnahmen, habe mich erfrecht, die Frage nach dem Tod von Gesines Mutter zu stellen. Die Antwort ist einfach nur abenteuerlich, alles ist völlig frei erfunden und hat nicht den geringsten Bezug zum Buch, noch nicht einmal die Namen stimmen. So schlimm hatte ich mir das nicht vorgestellt.
„Gesine Cresspahls Mutter, Katharina, stirbt in Uwe Johnsons Roman „Jahrestage: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ an einer Lungenembolie. Diese Information wird im Verlauf des Romans enthüllt und stellt ein zentrales Ereignis in der Geschichte dar. Katharinas Tod hat tiefgreifende Auswirkungen auf Gesine und prägt ihre Erinnerungen und Erzählungen. Die detaillierte Schilderung der familiären und historischen Hintergründe in „Jahrestage“ macht deutlich, wie persönliche Schicksale und historische Ereignisse miteinander verknüpft sind.“