Immanuel Kant: Vorkritische Schriften bis 1768

Sozusagen Kants Jugendschriften … (Nur, dass der Kant als Philosoph erst mit 58 Jahren aus den Kinderschuhen herausgewachsen war. Dafür aber dann gleich richtig.)

Da ich mir die so genannte „Akademie-Ausgabe“ weder leisten kann noch will, lese ich Kant in der 6-bändigen Auswahl, die Anfang der 1960er von Wilhelm Weischedel zusammengestellt wurde und die bis heute die – neben der „Akademie-Ausgabe“ – ‚gültige‘ Edition für Studienzwecke darstellt: Ohne kritisch sein zu wollen, werden die Texte der „Akademie-Ausgabe“ und – wo vorhanden – der von Cassirer veranstalteten Ausgabe aus den 1920ern verglichen und wichtige Differenzen angeführt. Ich werde nicht alle Texte gleich ausführlich vorstellen, die Weischedel im ersten Band seiner Ausgabe eingefügt hat; einige gehören noch allzu sehr zur Periode von Kants dogmatischen Schlummer.

Gedanken von der Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, derer sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedienet haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen [1746]

Kants erste veröffentlichte Schrift war wahrscheinlich als Dissertation in Königsberg gedacht und konnte auf Grund einiger darin vorkommender gewagter Gedanken nicht angenommen werden, worauf Kant sie ins Deutsche übersetzte und ‚einfach so‘ als Streitschrift in den intellektuellen Raum stellte. Immerhin war der 22-Jährige davon überzeugt, wichtige und richtige Verbesserungen an Leibniz‘ Theorie der Dynamik herausgefunden zu haben, die vor ihm alle anderen Physiker übersehen hatten.

Aus heutiger Sicht ist diese Schrift ein seltsames Ding. Mehr Physik als Philosophie, werden dennoch die Kräfte immer auch metaphysisch definiert, ja es wird sogar darüber spekuliert, wie die göttliche Kraft auf die göttliche Schöpfung eingewirkt haben mag, da Gott ja kein physikalischer Körper ist und demnach eigentlich nicht auf ebensolche einwirken könnte. Jedenfalls ist Newton noch nicht bei Kant angekommen, was sich nicht nur in den metaphysischen Definitionen der Kraft zeigt, sondern vor allem darin, dass eben nicht Newtons, sondern Leibniz‘ Ansichten zur Dynamik gewählt wurden, um sie denen Descartes‘ entgegen zu stellen. Newton wird in diesem Text, wenn ich richtig gezählt habe, ein einziges Mal, und dies nur am Rande, erwähnt.

Doch dann schreibt Kant trotz allem wieder heterodox: In einer von Leibniz und (vor allem!) Wolff geprägten, dazu noch pietistischen, Umgebung, wie sie die Universität Königsberg damals darstellte, war es wohl ein gewagtes Unterfangen, Leibniz‘ Theorien zu den Kräften anzugreifen, selbst wenn die Unterscheidung zwischen toten (also von außen durch einen Stoß in den Körper hineingekommenen) und lebendigen Kräften (Bewegungen, die einem Körper ’schon immer‘ inne wohnten – zum Beispiel den Planeten ihre Kreisbahn um die Sonne) damals bei Leibniz wie bei Descartes ’state of the art‘ und somit durchaus orthodox war.

Äußerst unorthodox dagegen die beiläufig fallen gelassene Bemerkung, dass es keinen Grund gebe, warum der Raum genau dreidimensional sei. Vier- oder noch höher dimensionale Räume wären, so Kant, durchaus möglich. Und, weil sie möglich sind, hat sie Gott auch erstellt. Es gibt also neben dieser unserer Welt weitere, anders dimensionale Welten – schon ein Vierteljahrtausend vor Brian Greene hat hier ein 22-jähriger Student der Philosophie eine Multiversumstheorie aufgestellt und sogar mathematisch begründet. (Zugegeben: Dieser Student sollte 35 Jahre später die Philosophie, wie man sie kannte und trieb, völlig auf den Kopf stellen.)

Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt. [1755]

Diese Schrift folgt nur in meiner Ausgabe unmittelbar auf die Gedanken von der Schätzung der lebendigen Kräfte; aber was dazwischen liegt ist gemäß Weischedel von minderem philosophischen Interesse.

Zunächst einmal weist schon der Titel der Allgemeinen Naturgeschichte mit der Erwähnung Newtons darauf hin, dass Kant in den vergangenen neun Jahren einige wissenschaftliche Fortschritte gemacht hat. Er hat unterdessen Newton rezipiert und sich mit dessen Gravitationstheorie auseinander gesetzt. Leibniz hingegen ist zumindest aus seinem physikalischen Denken verschwunden; auch Descartes wird nicht mehr erwähnt.

Dafür entschuldigt sich Kant zu Beginn der Abhandlung, dass er in seinem Werk auf Gedanken der antiken Atomisten zurück greife: Epikur, Lukrez, Demokrit und Leukipp. Er verweist darauf, dass er selbstverständlich die atheistischen Konsequenzen, die aus dem Atomismus folgen, nicht ziehe. Offen gesagt, halte ich das für ein Lippenbekenntnis, denn Gott wird in dieser Weltschöpfungstheorie absolut nirgends erwähnt, scheint also Kant kein Bedürfnis gewesen zu sein.

Zunächst stellt der Autor klar, dass die Sonne mit ihren Planeten nicht nur ein Stern unter vielen ist, sondern dass diese Sterne sich ihrerseits in einer Art Super-Planetensystem organisiert haben – der Milchstraße. Ja, er interpretiert astronomische Beobachtungen von Huygens dahingehend, dass es – weit, weit entfernt von der unseren – weitere Milchstrassen geben muss. Nachdem dieses klar gestellt ist, geht Kant dazu über, zu erklären, wie sich das System der Sonne und ihrer Planeten gebildet hat. Denn: Dieses System ist erst nach Jahrtausenden, wenn nicht Jahrmillionen entstanden, existierte nicht von Anfang an im an sich ewigen All. Und es wird auch, ebenfalls in Jahrtausenden, wenn nicht Jahrmillionen, wieder untergehen. Gebildet haben sich die Sonne und die Planeten nämlich auf Grund der Gravitation (und wahrscheinlich anderer Kräfte (der Elektrizität?), da Kant im minuskulen Bereich die Gravitation für zu schwach hält, die Körperchen zusammen zu halten), die für eine Akkumulation der Teilchen besorgt war. Nicht alle Planeten des Sonnensystems sind dabei seiner Meinung nach gleich alt – je weiter sie entfernt sind von der Sonne, desto später sind sie entstanden.

Interessant finde ich weniger die wissenschaftsgeschichtlichen Implikationen von Kants Schrift. (Obwohl es ein interessantes Thema für einen philosophischen Alternate-History-Roman sein könnte, sich vorzustellen, wie die Welt aussehen würde, wenn Kants Schrift von Anfang an in der wissenschaftlichen (physikalischen) Gemeinschaft rezipiert worden wäre und Kant vielleicht gar einen Lehrstuhl für Physik übernommen und in der Physik weitergeforscht hätte, während seine Kritiken ungeschrieben geblieben wären und wir heute noch Leibniz‘ Monadologie als philosophisches Nec plus ultra betrachteten.) Viel interessanter ist meiner Meinung nach der Schluss der Abhandlung, der zwar auch in Richtung Science Fiction weist, weil dort Kant seiner Überzeugung Ausdruck gibt, dass alle Planeten des Sonnensystems von intelligenten Wesen bevölkert sind (oder, im Falle der weit außen liegenden, vielleicht auch erst noch bevölkert werden). Denn, so sein Argument, die Natur(!) lässt nichts umsonst entstehen. Planeten zu bilden, ohne sie zu bevölkern, wäre eine Vergeudung ihrer Ressourcen. Da die Planeten um so weniger physikalische Dichte aufweisen, je weiter sie von der Sonne entfernt sind, gilt das natürlich auch von den Lebewesen: Sie sind umso dichter und kompakter gebaut, je näher ihr Planet um die Sonne kreist.

So viel zum Thema, Kant sei ein knochentrockener und phantasieloser Geist gewesen – auch wenn, um der Wahrheit die Ehre zu geben, gesagt werden muss, dass Kant zu seiner Zeit nicht als einziger mit dieser nach heutigen Begriffen extravaganten Meinung da stand.

Neue Erhellung der ersten Grundsätze metaphysischer Erkenntnis […] [1755]

Kants erste Disputation zur Erlangung der Venia Legendi in Königsberg. Eine trockene, im Stil der scholastisch-leibniz’schen Logik gehaltene Abhandlung über die Probleme von Wahrheit (inklusive Wirklichkeit) und Willensfreiheit. Hier verlässt Kant die eingefahrenen Geleise dessen, was er später selber Dogmatik nennen wird, noch in keiner Weise. Wir wollen ihm deswegen keine Vorwürfe machen – Verfahrensvorschriften sind Verfahrensvorschriften – aber dieser Text ist nur für ‚angefressene‘ PhilosophiehistorikerInnen.

Der Gebrauch der Metaphysik, sofern sie mit der Geometrie verbunden ist, in der Naturphilosophie, dessen erste Probe die physische Monadologie enthält [1756]

Die zweite Disputation zur Erlangung der Venia Legendi. Auch zu dieser möchte ich nicht viele Worte verlieren. Kant nennt – vielleicht, um sein Publikum von Leibnizianern zu täuschen? – physische Monaden, was andere einfach Atome nannten. Er verwirft Descartes‘ Ansicht, dass es in der Natur keinen leeren Raum gebe und postuliert, dass je nach physischer Monade die Dichte eines Körpers variieren wird. Vielleicht am wichtigsten ist in diesem kurzen Text der Umstand, dass Kant eine der großen Neuerungen Newtons richtig verstanden hat, der in seiner Physik zum ersten Mal den (konkreten) Körper vom (abstrakten) Raum unterschieden hat und – genau so wie Kant, der ihm hierin folgt – einen ins Unendliche teilbaren Raum, aber einen nur bis zu einem gewissen Grad (eben der physischen Monade!) teilbaren Körper vorsieht.

M. Immanuel Kants Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe, und der damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Naturwissenschaft, wodurch zugleich seine Vorlesungen in diesem halben Jahre angekündigt werden. Den 1sten April 1758

Im Grunde genommen setzt Kant hier auf Newton’sche Füsse, was er in seiner Schrift Gedanken von der Schätzung der lebendigen Kräfte von 1746 (s.o.) noch auf cartesische bzw. Leibniz’sche gestellt hatte.

Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus von M. Immanuel Kant, wodurch er zugleich seine Vorlesungen auf das bevorstehende halbe Jahr ankündigt. Den 7. October, 1759

Der Optimismus im Titel ist nicht eine Charaktereigenschaft oder eine geistige Disposition. Kant diskutiert hier vielmehr in aller Kürze Leibniz‘ Aussage, dass die existierende Welt die beste aller möglichen sei, weil Gott sich keine bessere habe ausdenken können, ansonsten er diese ja geschöpft hätte. Kurz gesagt hält Kant die Aussage „Bestes aller denkbaren“ oder „Größtes aller denkbaren“ (z.B. Zahl) ganz einfach für Unsinn, den sich Gott schon in allererster Linie gar nicht erst einfallen lässt. (Wittgenstein dürfte diesen kurzen Text allerdings wohl kaum gekannt haben.)

Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren [1762]

Die Aufstellung der syllogistischen Figuren in der klassischen, scholastischen Manier hat gemäß Kant dazu verführt, mit den einzelnen Positionen der Sätze willkürliche Permutationen auszuführen, die zwar spitzfindig sind, aber sinnlose Schlüsse generieren.

Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes [1763]

Man merke: Kant will nicht einen Beweis der Existenz Gottes geben, sondern nur aufzeigen, welcher Beweis als einziger logisch möglich sei. Nämlich das physikotheologische Argument, dass aus der Wohlgeordnetheit der Welt auf einen allmächtigen und weisen Schöpfer derselben geschlossen werden könne. Allerdings verwahrt sich Kant gegen plattere Formen dieses Arguments; er will ja schließlich nicht dem Spötter Voltaire in die Falle gehen, der da gesagt hat, die menschliche Nase sei ein Zeichen göttlich-vorhersehender Schöpfung – indem sie nämlich dazu gemacht worden sei, als Stütze für unsere Brille zu dienen. Kant versucht, dieser Falle auszuweichen, indem er eine natürliche Entstehung der Dinge – z.B. der Milchstraßen und des Sonnensystems (er wiederholt hierzu auch kurz, was er bereits in der Allgemeine[n] Naturgeschichte und Theorie des Himmels vorgebracht hat) oder der riesigen Mündungsdeltas von Amazonas oder Mississippi – unterscheidet von einer, bei der kein natürlicher Grund angenommen werden könne für deren Bildung – zum Beispiel der Gliedmaßen eines Säugetiers oder der mathematischen Eigenschaften eines Kreises. Erstere beweist für die Existenz Gottes gar nichts; nur auf Grund letzterer könne auf das Vorhandensein eines allmächtigen und intelligenten Wesens geschlossen werden – wobei die genauen Schlüsse noch formuliert werden müssten.

Kant entzieht sich allerdings mehr oder weniger elegant der Schlussfolgerung, dass – sobald ich bei der Bildung eines natürlichen Gegenstandes (egal, ob belebt oder unbelebt) auf implizite oder explizite Teleologie verzichte – auch sein Beweis einer verbesserten Physikotheologie dahin fällt. Eine Schlussfolgerung, die seinen ganzen schönen Versuch einer Rettung des Gottesbeweises zunichte macht – was er wohl kurze Zeit später selber eingesehen hat. Andere als seinen „ontotheologischen“ Beweis akzeptierte Kant schon in dieser Schrift nicht; den ontologischen Gottesbeweises in der Fassung Descartes‘ verwirft er unter anderem aus dem Grund, dass Decartes von der falschen Voraussetzung ausgehe, dass das Verb „sein“ ein reales Prädikat darstelle.

Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. Zur Beantwortung der Frage welche die königl. Academie der Wissenschaften zu Berlin auf das Jahr 1763. aufgegeben hat.

Im Grunde genommen, so Kant, handle es sich hier primär um ein Problem der Definition. Nämlich der Definition des Wortes „Definition“. Die Mathematik, zum Beispiel, kenne nur Definitionen durch willkürliche Verbindungen der Begriffe (also synthetisch in Kants Sprachgebrauch, die Weltweisheit hingegen gehe analytisch vor, indem sie bereits existierende Begriffe auseinander nimmt. Er kommt dabei abermals Wittgenstein erstaunlich nahe, wenn er schreibt:

In der Philosophie überhaupt, und der Metaphysik insbesonderheit, haben die Worte ihre Bedeutung durch den Redegebrauch […].

A 80

Diesen Gebrauch gilt es also zu untersuchen und allfällige Definitionen daraus zu erstellen. A fortiori sind denn auch theologische oder moralische Grundsätze nicht wie die mathematischen Axiome von vorne herein zu stellen, sondern müssen aus dem Sprach- und Lebensgebrauch heraus destilliert werden. Und abermals kommt er so einem Philosophen nahe, nämlich sich selber in seinem kritischen Werk, wenn er sich zum ersten Mal seinem kategorischen Imperativ annähert:

Und nun kann ich mit wenigem anzeigen: daß, nachdem ich über diesen Gegenstand lange nachgedacht habe, ich bin überzeugt worden, daß die Regel : Tue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist, der erste formale Grund aller Verbindlichkeit zu handeln sei […]

A 97

Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen [1763]

Offenbar gab es schon zu Kants Zeiten „Philosophen“, die mit nach im heutigen Sprachgebrauch logischen (d.h., mathematischen oder physikalischen) Begriffen ihre liebe Mühe hatten. Anders kann ich mir erklären, warum Kant sich veranlasst fühlt, den Begriff der negativen Größe zu erläutern – nämlich, dass in der Physik eine negative Geschwindigkeit (zum Beispiel) nicht einfach gar keine Geschwindigkeit heißt, sondern eine der positiven genau entgegengesetzte bedeutet. (Dass die Setzungen von ‚positiv‘ bzw. ’negativ‘ willkürliche sind, gibt Kant zwar implizit zu, macht es aber nicht deutlich.) Das gilt dann nicht nur für die Logik, sondern auch z.B. in der Ethik, wo unmoralisches Verhalten (also eines, das der gängigen Moral entgegen gesetzt ist) zu unterscheiden ist von amoralischem Verhalten (einem Verhalten, das mit Moral nichts zu tun hat, landläufig z.B. das Verhalten der Tiere – wobei der Mensch dann inkonsequent genug ist, unmoralisches Verhalten mit Tiernamen zu bedenken, womit wir aber von Kant abschweifen). Da negative Größen graduell sein können (+6-4), kann auch moralisches Verhalten graduell ein- und abgestuft werden. Und das kann wiederum implizieren, dass eine Person als moralisch weniger hochstehend qualifiziert werden muss, als eine andere, auch wenn sie sich auf den ersten Blick moralischer verhalten hat, weil sie z.B. bei einer Kollekte in der Kirche mehr gespendet hat als die Banknachbarin, denn diese hat im Verhältnis zu ihrem Vermögen mehr gegeben.

Der Text ist zu kurz, um alle Feinheiten abdecken zu können, die das Thema hergäbe; aber Kant ist sich dessen bewusst und bittet auch um Entschuldigung dafür.

Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [1764]

Was eine ästhetische Abhandlung erwarten lässt und zunächst auch eine ist, erweitert sich dann rasch zu einer Temperamenten- und Charakterlehre, einer Geschlechterlehre und schließlich einer Charakterlehre der Nationen / Rassen.

Schön ist kurz gesagt, dasjenige, das uns positiv affiziert; erhaben das Schauderhafte. Homers Schilderung des Gürtels der Venus ist schön; Miltons Beschreibung der Hölle ist erhaben. In den Temperamenten finden sich dann je verschiedene Mischungen – Kant greift hier auf die altehrwürdig Humoralpathologie der Hippokratik zurück. Auch bei der Definition der (Charakter-)Eigenschaften von Männlein und Weiblein zeigt sich Kant äußerst konservativ. So spricht er – Mme de Châtelet zum Trotz, die er in seinen naturwissenschaftlichen Schriften ohne weiteres zitieren konnte – den Frauen die Notwendigkeit einer anderen als einer minimalen Bildung ab. Dafür sollen sie sich fleißig waschen und putzen, was beim Mann nicht unbedingt in diesem Ausmaß nötig sei. Die Anwendung des Erhabenen und des Schönen auf die Nationen schließlich zementiert, was Europa und den nahen Osten betrifft, die bestehenden volkstümlichen Urteile bzw. Vorurteile (wobei Kant über die Juden schweigt, wie er überhaupt die Religionen nur streift). Schon das ist aus heutiger Sicht problematisch. Bei außereuropäischen Völkern wird Kant dann nach heutigem Gesichtspunkt definitiv zum Rassisten. Die nordamerikanischen Indianer ausgenommen, findet er sowohl bei den Chinesen, den Indern (die er Indianer nennt) und vor allem bei den Schwarzen wenig zu rühmen. Vor allem die Bemerkungen zu letzteren (A 102f) sind aus heutiger Sicht unerträglich: läppisch und eitel nennt er die Negers; dabei hilft es auch nichts, dass er sich als Kronzeugen auf niemand Geringeren als David Hume berufen kann. (Der in dieser Schrift – ebenso wie die französischen Aufklärer Rousseau, Montesquieu und D’Alembert – übrigens zum ersten Mal zitiert wird.)

Versuch über die Krankheiten des Kopfes [1764]

Eine seltsame Mischung aus moralischen Beschreibungen einerseits und medizinisch-psychiatrischen Definitionen andererseits. Manchmal fast satirisch.

M. Immanuel Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre, von 1765-1766

Wie immer mehr als die Ankündigung seiner Vorlesungen, sondern auch eine kleine themenspezifische Abhandlung. Dieses Mal ist es eine pädagogische. Kurz zusammengefasst, haben wir hier Kant aufklärerische Position des „Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“ in nuce vor uns. Schon in der Schule, aber erst recht an der Universität, erst recht beim Studium der Philosophie, soll der Knabe, der junge Mann (Frauen gab es damals an der Universität noch nicht!) nicht auswendig Stoff anhäufen, sondern anwenden können – oder, wie es Kant formuliert: Nicht Philosophie lernen, sondern philosophieren lernen.

Träume eines Geistersehers, erläutert durch die Träume der Metaphysik [1766]

Das erste Kapitel wirft eigentlich bloß Fragen auf: Was ist ein Geist? Sind Geister körperlich? Wo im Körper hat die Seele ihren Sitz? Wie ist die Gemeinschaft von Geist und Körper zu denken? Wie die „innere“ Tätigkeit der Materie? Diese und andere Probleme […] bleiben für Kant Fragen, über die sich Gewisses nicht ausmachen läßt. Er wenigstens mache sich anheischig, jedem etwaigen Gegner sein Nichtwissen auf diesem Gebiete zu beweisen. Man kann nun diesen „verwickelten metaphysischen Knoten“ nach Belieben „auflösen oder abhauen“. Versucht man das erstere und gibt dabei immaterielle Geister zu, so führt uns die „geheime Philosophie“ des zweiten Kapitels bald genug zur Annahme eines ganzen Geisterreiches.

(Karl Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. II/3)

Besser als Vorländer kann ich es nicht ausdrücken. Wenn ich einen Geist annehme (oder eine Seele – Kant braucht die beiden Wörter hier synonym), komme ich so oder so in Teufels Küche. Entweder ich komme bei unsichtbaren Wesen an, über die sich nichts Genaues sagen lässt, über die aber die Metaphysiker (in diesem Zusammenhang nennt sie Kant Kabbalisten viel zu sagen – oder eben: zu träumen – wissen. Sehe ich diese Geister, so bin ich bei den Ausflüssen eines kranken Hirns. Zu letzteren zählt er auch die unmittelbare Ursache dieser Schrift: Emanuel Swedenborg (Kant schrieb Schwedenburg und sprach es auch wohl so aus) und sein Monsterwerk Arcana coelesta (Himmlische Geheimnisse), über die und über den er sich denn auch im zweiten Teil seines Textes weidlich lustig macht. Nie ist Kant einer (Personal-)Satire näher gekommen wie in den Träumen eines Geistersehers

Zum ersten Mal in seinen vorkritischen Schriften – und das macht diesen Text bis heute philosophisch interessant – kommt Kant dazu, Dinge, von denen man wissen kann, zu unterscheiden von welchen, über die man nichts wissen kann.

Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume

Raum ist nicht gleich Raum; sondern Raum ist immer auch Orientierung im Raum. Banal gesagt, kennen wir im Raum immer links und rechts, und wir können an unserem Körper die linke Hand nicht mit der rechten deckungsgleich kriegen. Ein weiteres Beispiel ist der Spiegel, der aus der rechten Hand eine linke macht und umgekehrt. Will sagen: Wir kennen keinen absoluten Raum, sondern immer nur einen relativen, in dem wir uns orientieren (müssen). Auch hier zeichnet sich schon die Kritik der reinen Vernunft ab, mit dem uns nicht zugänglichen Ding an sich.