Blanca Imboden: heimelig

Langsam nähert man sich ja dem Alter, in dem das Thema „Altersheim“ mehr wird, als nur eine theoretische Möglichkeit an einem fernen Horizont. Mehr als etwas, von dem man den sich sträubenden Opa, die abwehrende Mama zu überzeugen versucht. Die heutige Gesellschaft bietet kaum noch die Möglichkeit, jene althergebrachte Familienform zu leben, wo mehrere Generationen unter einem Dach leben. „Altersheim“ heißt die (manchmal traurige) Alternative.

Dabei gibt es heute gar keine „Altersheime“ mehr. „Seniorenresidenz“ ist der mindeste Euphemismus, den man verwendet, den auch diese Institute selber in ihrem Namen verwenden. Doch egal, was auf der Verpackung steht: Der Inhalt ist immer der gleiche. Altersheime gleichen Kreuzfahrtschiffen, wo du für teures Geld eine vielleicht 20m2 große Kabine buchst. Für dein Geld wird dir so mancher Luxus versprochen – angefangen von ausreichender und guter Verpflegung bis hin zu einem interessanten Unterhaltungsprogramm. Bei einer Kreuzfahrt hast du allerdings von Zeit zu Zeit Landurlaub, und ein Ende hat sie auch einmal. Ein Altersheim bietet keinen Landurlaub, und du bist in den meisten Fällen lebenslänglich dazu verurteilt. Das Unterhaltungsprogramm hat auch nicht die Qualität, die ein Kreuzfahrtschiff bietet. Last but not least würde es dir auf einer Kreuzfahrt auch nicht passieren, dass der Steward einen Schlüssel zu deinem Zimmer hat und jederzeit (auch ungefragt) eintritt – bei Tag oder bei Nacht.

Das alles tippt Blanca Imboden in ihrem Roman heimelig an. heimelig – alles klein geschrieben und schräg, wie es einmal heisst – also kursiv, nennt sich eine Seniorenresidenz irgendwo am Rand der Innerschweiz. Nelly, die Ich-Erzählerin, ist 77 und vor relativ kurzer Zeit erst dort eingezogen. Sie ist eigentlich noch zu jung fürs Altersheim, zu agil, zu lebenslustig. Der Roman schildert die paar Wochen, die sie dort verbringt, bevor sie sich auf ein anderes Experiment einlässt – ein Mehrgenerationenhaus, wo sie dann auch mit ihrer großen Altersliebe zusammen sein kann.

Der Roman ist flott geschrieben und witzig. Manchmal verwendet Nelly Floskeln, die ich von einer 77-Jährigen nicht unbedingt erwarte (Das ist okay ist so eine), aber das ist okay. Der Alltag von so einem Heim wird – wenn wir einmal von Situationen und Gesprächen beim gemeinsamen Essen absehen – recht wenig thematisiert. Die durchaus vorhandenen und auch vorgestellten Menschen mit mehr oder minder grosser Demenz, sind für den Roman eher Staffage. Denn schon bald entschließt sich Nelly, auf Reisen zu gehen. Mit der Bahn will sie das Alphabet abreisen – verschiedene Orte in der Schweiz besuchen, die mit jeweils einem andern Buchstaben beginnen. Angefangen beim ‚A‘. (Der Roman endet dann schon beim Buchstaben ‚D‘, wo sie ihr Mehrgenerationenhaus findet, das sich Daheim nennt. Auch kein besserer Name, wenn man mich fragt, als heimelig, über das sich alle Bewohner lustig machen. Letzteres wird in der Schweiz übrigens dazu benutzt, einen Ort zu beschreiben, wo man sich wohl fühlt, wie daheim fühlt eben – dahinter steckt immer eine kleine Prise Kitsch.)

So ganz realistisch will mir die Geschichte nicht scheinen. Natürlich geschieht es manchmal, dass man im fortgeschrittenen Alter noch einmal die Liebe entdeckt. Aber so ein Ereignis stellt wohl eher eine Ausnahme dar im durchschnittlichen Alltag eines Altersheims. Von den vier Tischgenossen, die sich in Imbodens Roman zusammen finden, und die ein bisschen näher vorgestellt werden, ist es ja auch nur Nelly, die das erlebt. Und ihre Liebe ist ein Mann, der nicht im Heim wohnt, auch das wohl eher ungewöhnlich. Äußerst unrealistisch finde ich – neben ihrer ungewöhnlichen Agilität – auch Nellys Hintergrund. Sie ist Witwe eines Zahnarztes, hat vor kurzem das gemeinsame Haus verkauft und nun genügend Geld – nicht nur für ihre Ausflüge, sondern auch, um die Kosten des Heims problemlos zu decken. Heime verlangen bekanntlich Hotel-Preise, und Monat um Monat die Kosten eines Hotels zu zahlen, übersteigt die Möglichkeiten der meisten Gäste (denn „Insassen“ sagt man ja auch nicht mehr). Sie werden abhängig davon, dass der Staat für sie zahlt. Das wird im Roman nicht angesprochen.. Nelly ist autark und autonom. Der riesige Spardruck allerdings, dem die Institution ‚Altersheim‘ ausgesetzt ist, und die Überforderung vor allem des Pflegepersonals, das kaum Zeit hat für den einzelnen und Dinge verrichten muss, für die es nicht ausgebildet wurde, werden von den „Insassen“ am Tisch besprochen.

Das Beeindruckendste am Roman ist, meiner Meinung nach, der Umstand, dass Blanca Imboden ein Thema anspricht, dessen Virulenz ich mir nicht bewusst war. Das nahende Lebensende ist für drei der vier zu einer Tischgemeinschaft verurteilten Leute auch Anlass, zu versuchen, begangene Fehler zumindest ein wenig wieder gutzumachen. Es wenigstens zu versuchen. Manchmal unfreiwillig, wie bei Paul, der eines Tages von einer neu angekommenen Frau lauthals beschimpft und mit allem beworfen wird, das dieser gerade in die Hände gerät. Paul erkennt die Frau: Er war einmal mit ihr verheiratet, und hat sie bei der Scheidung (nach eigenen Aussagen) zusammen mit einem befreundeten Anwalt so ziemlich über den Tisch gezogen. Jetzt ist sie da, im selben Heim, bereits dement, aber wütender auf ihn denn je.

Oder Tobias, 99, schwer an Krebs erkrankt, der aktiv versucht, sich mit seiner Tochter zu versöhnen, der er ein schlechter Vater war. Er schickt Nelly als Botin zu ihr. Sie trifft sie auf einer grossen Feier zu Ehren ihres Geburtstags. Die Versöhnung scheitert; die Tochter will nichts mehr von ihrem Vater wissen. Ihre Enkel aber, also Tobias‘ Urenkel, die die Szene mitbekommen haben, welche die Tochter Nelly macht, fühlen sich veranlasst, zusammen mit weiteren Verwandten den plötzlich aufgetauchten Ur-Opa zu besuchen. So kann dieser nun in aller Ruhe sterben (selbstgewählter Freitod mit einem von einer Drittperson verabreichten Gift übrigens – das ist in der Schweiz ja erlaubt). Das klingt nach Kitsch, und ist es im Grunde genommen auch. Aber Blanca Imboden gelingt es, den Kitsch mit einer Prise Ironie, ja Zynismus, zu würzen und somit genießbar zu machen.

Auch Nelly die Ich-Erzählerin, muss sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Mit ihrem verstorbenen Mann, der ihre große Liebe war, und der nun doch durch einen andern Mann verdrängt wird. Mit ihrer allerersten Liebe. Mit ihrer Tochter, die hartherzig und verschlossen ist – was bei Nelly natürlich Fragen auslöst nach der Erziehung, die sie und ihr Mann dem Mädchen damals angedeihen ließen. Mit ihrer Enkelin, die von einem Mann schwanger wird, der sie zwar liebt, sie aber (nie?) heiraten wird, oder auch nur mit ihr zusammen leben und sich um das gemeinsame Kind kümmern.

Marlies, die andere Frau am Tisch, ist die einzige Figur, die keine Geschichte hat, der kein Hintergrund gegeben wird. Ihre Rolle im Roman beschränkt sich darauf, nörgelnde Kommentare bei Tisch abzugeben. Das ist schade, und lässt den Roman ein wenig unrund erscheinen.

Alles in allem aber eine flotte, manchmal nachdenklich stimmende, manchmal zu einem Lachen verführende Lektüre. Natürlich: Nelly erlebt auf ihren vier Reisen zu viel, auch Seltsames, wie einen Bombenalarm, den Besuch eines berühmten Schriftstellers bei ihr (begleitet von einem Fernseh-Team!) oder gar eine Drogenrazzia im Altersheim. Zu viel, um als wirklich realistische Persönlichkeit beim Leser anzukommen. Aber der Zynismus, mit dem sie sich immer wieder gegen die erdrückenden Um- und Zustände wehrt, die Alter und Heim so mit sich bringen, machen sie dann doch sympathisch. Blanca Imboden ist es gelungen, das Thema ‚Alter im Altersheim‘ so darzustellen, dass es nicht schrecklich wirkt, ohne dessen Schrecken aber zu verbergen. (Sie gibt an, sich bei der Darstellung des Altersheims auf die Schilderungen ihrer Mutter zu stützen, die selber ins Heim ging, als sie im Grunde genommen noch zu jung und zu agil dafür war.) Eine unwissenschaftliche, aber gerade deshalb interessante Art, das Thema für ein größeres Publikum aufzubereiten.


Blanca Imboden: heimelig. Lachen: wörterseh, 2019

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