Camus’ theoretische Werke (wie z.B. das vorliegende Der Mythos von Sisyphos) werden meist unter ‚Philosophie‘ abgelegt – ein Brauch, dem ich auch gefolgt bin. Camus selber, als Autor und Denker, findet man dann meistens in der Schublade ‚Existenzialismus‘. Jedenfalls im deutschen Sprachraum gelten die beiden Sätze ziemlich genau, im französischen schaut man die Sache, wenn ich das richtig sehe, etwas differenzierter an. Zu Recht, wie ich finde.
Zum einen grenzt sich Camus selber vom Existenzialismus ab, auch hier im Mythos von Sisyphos. Der Anregung von Liselotte Richter in meiner Ausgabe folgend, würde man seine Philosophie wohl besser als ein ‚Denken des Absurden‘ bezeichnen. ‚Absurd‘ ist ein immer wieder aufscheinendes Schlüsselwort in Camus’ Aufsatz. In einer absurden Situation findet sich für ihn jeder Mensch wieder, der über sich und das Leben nachdenkt. ‚Absurd‘ will sagen: Das Leben hat als solches keinen Sinn bei Camus; jede Sinngebung erfolgt a posteriori, meist sub specie aeternitatis. Der Mensch trifft Aussagen über ein Leben nach dem Tod, über das er noch weniger weiß als über das Leben davor. Und selbst, wenn er das nicht tut, greift er in die Trickkiste der Metaphysik und versucht, seinem Leben einen Sinn zu geben, den es per se nicht hat. Anders als die anderen Denker findet Camus aber auch im Tod keinen Sinn. Auch der ist absurd. Sich angesichts der Sinnlosigkeit des Lebens umzubringen, ist also ebenso sinnlos wie weiter zu leben – Camus beginnt dieses Buch hier mit einem längeren Abschnitt über den Selbstmord.
Zum andern, nämlich zum Begriff ‚Philosophie‘, angewendet auf Camus, ist zu sagen, dass auch das im Grunde genommen falsch ist. Camus liefert keine Philosophie, lieber möchte ich den weiter gefassten Begriff einer ‚Weltanschauung‘ verwenden. Camus hat sogar Philosophie studiert und eine Examensarbeit über Plotin und Augustinus abgeliefert, aber was wir hier vor uns haben, würde ich eher als einen kunst- oder literaturtheoretischen Aufsatz bezeichnen – eine Poetologie des Absurden. Natürlich verfolgt Camus die Wurzeln des absurden Denkens in der Philosophie. Ausgangspunkt ist für ihn Kierkegaard, der einzige auch, dem er zugesteht, die Absurdität menschlichen Lebens und Sterbens einigermaßen verstanden zu haben. Weitere Ansätze findet er in der Phänomenologie Husserls (hier treffen sich Camus’ philosophisch-absurde Wurzeln mit den existenzialistischen von Jean-Paul Sartre). Die zeitgenössischen Existenzialisten aber verwirft er, mit Ausnahme des Romanciers Malraux, ebenso wie den deutschen Idealismus, wie jede Form von Idealismus. Alle Philosophen aber sind nach Camus den Irrtum verfallen, dem Leben eine irgendwie geartete metaphysische Sinngebung zu verpassen. Selbst Kierkegaard, der extremste, der absurdeste, hat sich – vor allem gegen Ende seines Lebens – wieder dem Glauben in die Arme geworfen, in Gott einen Sinn des Lebens gefunden. Heidegger nun gar wird höhnisch als der Philosophie-Professor bezeichnet, um den Widerspruch aufzuzeigen zwischen dessen Theorie (der Philosophie der Geworfenheit) und dessen Praxis als fette Made im (nationalsozialistischen!) Speck einer Universität.
Camus ist der Meinung, dass der Mensch sich vor dem Sprung in den Glauben, den Kierkegaard letztlich ausgeführt hat, hüten sollte. Vor jedem Sprung irgendwohin in einen Glauben, in metaphysische Gewissheiten, hüten sollte. Eine auf Platon zurückgehende Ideenlehre ist Camus ebenso suspekt wie eine marxistische Heilsgewissheit. Eine Wahrheit über das Leben zu finden, ist gemäß Camus nicht möglich. Das hat erkenntnistheoretische ebenso wie ethische Konsequenzen. Die aufzuzeigen ist aber der Philosophie nicht möglich, weil sie sofort in metaphysische Diskussionen verfällt. Einzig (und selbst das gibt Camus nur implizit zu) die Kunst, allen Künsten voran die Literatur, ist in der Lage, die Situation des absurden Menschen zu aufzuzeigen. (Es hat sicher schon mal jemand versucht, Filiationen von Camus’ Denken zu dem Wittgensteins zu finden …) Der absurde Mensch nach Camus nämlich ist der, der zwar den Sprung in den Glauben nicht ausführt, sich aber ständig dafür bereit macht – im Wissen, dass er nie springen wird. Der Mensch ist quasi immer ‚auf dem Sprung‘; der Sinn des Lebens ist es, zu leben. Die Paradegestalt des absurden Menschen ist für Camus die des Don Juan. Ohne sich um den Tod zu bekümmern (und schon gar nicht um die ihm angedrohte ewige Verdammnis), lebt und liebt er von einem Tag zum nächsten. Selbst das Alter kann ihm nichts anhaben. Außerhalb der Literatur ist vielleicht der Schauspieler jener, der Camus’ absurdem Menschen am nächsten kommt – ein Mensch, der jeden Tag in eine neue Rolle schlüpft, unbekümmert darum, wen oder was er gerade noch gestern verkörpert hat. In der Mythologie ist es der titelgebende Sisyphus, der sinnloser Weise den Stein auf einen Berg zu wälzen hat – einen Stein, der jedes Mal wieder den Berg hinunter rollt. Sisyphus aber findet, wenn der Stein wieder hinunter gekugelt ist und er ihm nachgeht, um ihn wieder hoch zu wälzen, in der Zeit des Hinabsteigens seine Erfüllung:
Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Finis operis.
Camus philosophiert nicht, denn er deduziert nicht. Manchmal ist man versucht zu sagen: Er predigt. Anders, als er wohl selber dachte, ist sein absurder Mensch zeitgebunden – eine Reaktion auf die im Erscheinungsjahr 1942 des Mythos von Sisyphos mehr und mehr zu Tage tretenden Furchtbarkeiten der Nazi-Zeit und des Zweiten Weltkriegs. Die Zeit der Hochkonjunktur, die wir hinter uns haben, ließ ihn in Vergessenheit geraten. Aber ich warte darauf, dass man ihn – mit dem erneuten Aufflackern von Kriegshandlungen in Europa und dem wohl endgültigen Ende der Hochkonjunktur – im 21. Jahrhundert wieder entdeckt.
Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Mit einem kommentierenden Essay von Liselotte Richter. Übertragen von Hans Georg Brenner und Wolfdietrich Rasch. Hamburg: Rowohlt, 1959. [Vor mir liegt das 218.-225. Tausend von 1978, erschienen in der Reihe rowohlts deutsche enzyklopädie als N° 90. 1978 war gerade noch die Zeit, als sich auch Großverlage einem Bildungsauftrag verpflichtet fühlten. All diese Reihen sind seither von Rowohlt, wie von allen anderen, mangels finanziellem Ertrag eingestampft worden.]