Charles Howard Hinton: Wissenschaftliche Erzählungen

Hätte Borges nicht drei Erzählungen von Charles Howard Hinton in seine Bibliothek von Babel aufgenommen, würden ihn allenfalls ein paar hochspezialisierte Kenner der phantastischen Literatur kennen – und ich würde ihn heute wohl kaum hier vorstellen. Was wir über Hinton wissen, geht nicht viel über das hinaus, was Borges im Vorwort zu Band 10 der Bibliothek von Babel geschrieben hat. Vor allem: Es sind offenbar nie andere Texte von ihm auf Deutsch erschienen, als die drei dieses Bands (Übersetzerin: Angelika Hildebrandt), während er auf Englisch hin und wieder veröffentlicht wurde und wird.

Hinton war ein ursprünglich englischer Mathematiker und lehrte eine Zeitlang an englischen Colleges Mathematik, bis er der Bigamie überführt wurde und das Land Richtung Japan verließ. Was er dort trieb, ist nicht näher dokumentiert (offenbar Missionsarbeit); er verließ auch dieses Land nach ein paar Jahren und ging in die USA, wo er eine Zeitlang als Instruktor für Mathematik an der Princeton University lehrte, später auch an anderen Universitäten lehrte, bevor er zum Schluss in Washington D. C. im US Patentamt wirkte. Als Mathematiker beschäftigte er sich vornehmlich mit mehrdimensionalen Räumen. Seine ‚literarischen‘ Werke scheinen vor allem der Popularisierung seines mathematischen Schaffens gedient zu haben.

Sowohl wissenschafts- wie literaturgeschichtlich aber sollte Hinton nicht ganz vergessen gehen. Er hat zum einen im Rahmen seiner Beschäftigung mit vierdimensionalen Räumen den Begriff des ‚Tesserakts‘ geprägt. Ein Tesserakt ist das Äquivalent zum Würfel, aber in vier Dimensionen, dessen Eigenschaften Hinton bestimmte. Ebenfalls im Rahmen seiner Beschäftigung mit vierdimensionalen Räumen ist die Tatsache zu erwähnen, dass Hinton als erster die Zeit als vierte Dimension dessen betrachtete, was wir seither unser Raum-Zeit-Gefüge nennen. Diese Betrachtungsweise wurde in der Wissenschaft von Albert Einstein bei der Formulierung der Relativitätstheorie wieder aufgenommen; in der Literatur wurde sie zur theoretischen Voraussetzung für H. G. Wells‘ Zeitmaschine. Last but not least nannte er eines seiner literarischen Bücher, eine Sammlung von Kurzgeschichten, Scientific Romances (Wissenschaftliche Erzählungen) und wurde damit zum Ahnherrn des heutigen Begriffs der ‚Science Fiction‘. Aus den Scientific Romances sind auch die drei Kurzgeschichten genommen, die Borges seiner Bibliothek von Babel einverleibte:

Eine flache Welt

Was ist die vierte Dimension

Der König von Persien

In der ersten dieser Erzählungen stellt Hinton eine zweidimensionale Welt mit zweidimensionalen Lebewesen vor. Er schildert ihr Leben; er schildert gewisse, diesen Lebewesen unerklärliche Phänomene. Phänomene nämlich, die nur erklärt werden können, wenn man sich vorstellen kann, dass Dinge in der dritten Dimension um ihre Achse gedreht werden können. Die Stoßrichtung des Textes ist klar: Hinton versucht, der Vorstellungskraft seiner Leserschaft auf die Sprünge zu helfen, damit sie ihrerseits – als Lebewesen in der dritten Dimension – sich vorstellen können, in welcher Weise eine vierte Dimension in ihr Dasein eingreifen könnte.

Im zweiten Text lässt Hinton die Katze aus dem Sack und stellt uns die Zeit als vierte Dimension vor. Fiktionales ist hier nicht zu finden.

Dafür ist der letzte und bei weitem längste Text größtenteils Fiktion. Er beginnt, um Borges zu paraphrasieren, fast wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht mit einem persischen König, der auf der Jagd von seinem Gefolge getrennt wird und in eine Art verzaubertes Tal gelangt. Dort trifft er auf einen alten Mann, den Demiurgos, und auf zwei Kinder, die in einer Art Stupor am Boden liegen. Der Demiurgos erklärt dem König, dass die beiden in einem Gleichgewicht gefangen sind: Obwohl sie Freude am Spielen haben, verursacht ihnen jede Bewegung Schmerzen. Weil sich Freude und Schmerzen das Gleichgewicht halten, können sie sich nicht bewegen. Das würde nur gehen, erklärt der Demiurgos, wenn er, der König, bereit wäre, ihre Schmerzen auf sich zu nehmen. Der König erklärt sich dazu bereit, und tatsächlich fangen die Kinder an zu spielen und herum zu tollen. Allerdings kumulieren sich die Schmerzen, und der König muss erschöpft aufhören, sie von den Kindern zu übernehmen. Sofort fallen sie wieder in ihren Stupor. Das Folgende wird sehr detailliert erklärt, auch mit mathematischen Formeln – aber schließlich findet der König einen Weg, den größeren Teil der Schmerzen bei den Menschen dieses Tals zu lassen und nur einen kleinen Part auf sich zu nehmen. Ja, er findet die Möglichkeit, wie gewisse Menschen des Tals ihrerseits die Schmerzen anderer auf sich nehmen können, ohne gleich in einen Stupor zu geraten. Das geht so lange gut, bis einer auftaucht, der das System in Frage stellt. Er, der noch mehr Schmerzen auf sich nehmen konnte als die anderen, wird als Verräter zum Tod verurteilt. Doch siehe da: Mit seinem Tod bricht das ganze System zusammen; einer nach dem anderen verfallen die Menschen des Tals wieder dem früheren Stupor. Der König aber wird vom Demiurgos abgeholt und die beiden wandern fort.

Die moralische Nutzanwendung ebenso wie die Anspielungen auf den Messias sind offensichtlich. Diese Geschichte ist zugleich die beste der Auswahl (denn sie ist als einzige wirklich eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende); sie ist aber auch die schlechteste, weil sie zum Schluss allzu offensichtlich predigt.

Alle drei Texte aber sind seltsam genug, dass man ihnen ein breites Publikum wünschen würde.

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