Herodot nannte man den ‚Vater der Geschichte‘; Toynbee wird als der ‚letzte Universalhistoriker‘ betitelt. Beide verdanken ihren Ruf einem einzigen Werk. Wobei das von Toynbee ein bisschen größer geraten ist: A Study of History umfasst 12 Bände und erschien zwischen 1934 und 1961. So viel größer geraten in der Tat, dass schon zu Toynbees Lebzeiten (und mit seiner Zustimmung – er verfasste sogar ein Vorwort dazu) eine gekürzte Version erschien. D. C. Somervell (ebenfalls ein Historiker) fasste die Bände I bis VI und VII bis X 1946 bzw. 1957 in je einen Band zusammen. Somervell kürzte einige Exkurse heraus, und vor allem: Er kürzte viele Beispiele heraus, mit denen Toynbee jeweils belegen wollte, dass diese oder jene Phase in allen Zivilisationen bzw. Hochkulturen, die seiner Meinung nach die Weltgeschichte formten, existiert hatten. Und Toynbee hat deren 23 identifiziert … Diese gekürzte Version ist 1949 bzw. 1958 in der Übersetzung von Jürgen von Kempinski als Der Gang der Weltgeschichte auf Deutsch erschienen; diese gekürzte Version habe ich in einer einbändigen Ausgabe von Zweitausendeins gelesen. Sie umfasst immer noch rund 1’000 in winzigen Lettern gedruckte Seiten in einem Format, das ein bisschen größer ist als A5.
Toynbees Text weist auch in dieser Version – nebst der Überlänge – zwei große Schwächen auf:
Die zweite ist der unumgängliche Umstand, dass in 20 Jahren Arbeit sich Autor und dessen Umwelt signifikant verändern. Toynbee erwähnt zwar irgendwo gegen Ende, dass er sich immer noch auf seine Notizen über den Fortgang des Werks aus den 30er Jahren stütze; dennoch sind Veränderungen festzustellen. Zu Beginn der Arbeit stand Toynbee sehr stark unter dem Einfluss von seinem Vorgänger, also dem vorletzten Universalhistoriker: Oswald Spengler. Wie dieser glaubte Toynbee daran, dass alle großen Zivilisationskörper (wie Kempinski üblicherweise übersetzt) einen fixen Zyklus durchlaufen von der Geburt bis zum Tod – ein Zyklus, dessen Phasen genau definiert sind in Inhalt wie in Reihenfolge. Einziger wichtiger Unterschied zu Spengler ist es, dass Toynbee nicht annimmt, dass dieser Lebenszyklus auch eine fixe Länge hat. Hochkulturen können nach ihm unterschiedlich lange leben – und sie können in gewisser Weise Kinder zeugen. Einige Kulturen scheitern und erreichen das Stadium der eigentlichen Hochkultur nicht; andere versteinern und durchlaufen eine jahrhundertelange Todesagonie. In den frühen Büchern stehen diese Kulturen zwar sogar manchmal nebeneinander; wie Leibniz’sche Monaden aber stehen sie in keiner Beziehung zu einander. Erst in den 50er Jahren baute Toynbee gegenseitige Einflüsse in seine Betrachtungen ein. Zu Beginn seiner Arbeit war Toynbee noch stark auf Spengler fixiert und starrte ein bisschen (wie das sprichwörtliche Kaninchen auf die ebenso sprichwörtliche Schlange) auf den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, der ihm – wie so vielen anderen ja auch – tatsächlich das Signal zu sein schien, dass die christlich-abendländische Kultur nun an ihrem Ende war. Dass der Nationalsozialismus nur ein bösartiges und kurzfristiges Zwischenspiel war und diese Kultur, so sie überhaupt existierte, eines anderen Todes sterben müsste, hat er in der Nachkriegszeit natürlich auch gesehen; entsprechend wenig wird der Nationalsozialismus dann noch erwähnt. Auch ein Historiker gibt seine eigenen historischen Irrtümer nicht gern zu.
Die erste große Schwäche von Toynbees Betrachtungen aber ist eine formale. Nämlich:
Das Vorbild seiner (und Spenglers!) Form von Geschichtsbetrachtung ist das Bild der Lebensalterstreppe, wie es seit dem ausgehenden Mittelalter weit verbreitet war: Der Mann (es ist meist ein Mann) auf der linken untersten Treppenstufe ein Kleinkind, steigt auf einer Treppe immer wieder eine Stufe höher – zum Kind, zum Jüngling etc. – bis er dann auf der höchsten Stufe steht: ein in der vollen geistigen und körperlichen Kraft stehender Mann im besten Lebensalter. Danach aber geht es rechts wieder herunter: über den Greis zum senilen und invaliden alten Menschen, der wieder – wie einst als Baby – auf die Hilfe anderer angewiesen ist zum Überleben. Dieser ursprünglich allegorische und wesentlich auf Augustin, also auf das frühe Christentum, zurück zu führende Ansatz hat sich nun in der biologistischen (also naturwissenschaftlich klingenden, also rationalistischen) Variante in die Beschreibung des Aufstiegs und Niedergangs von Großreichen bei Spengler und Toynbee als Erklärungsmodell eingeschmuggelt. Toynbee hat das Biologistische noch stärker betont, indem er die einzelnen Altersstufen je nach Individuum (also je nach Kultur) verschieden lange sein lässt. Last but not least: Bei allem scheinbaren Rationalismus, und obwohl er sich in einem anderen Teil seines Texts sogar genau darüber lustig macht, glaubt Toynbee offenbar doch irgendwie an eine Überlegenheit des christlich-abendländischen Zivilisationskörpers; jedenfalls hält er es für möglich, dass dieser seine rivalisierenden Kulturen (u.a. die des Islam) überleben bzw. vereinnahmen wird. (Wie überhaupt Toynbee zwar Zivilisationskörper als historische Akteure nennt, de facto aber immer Großreiche oder Universalkirchen als Beispiele in der Feder führt. Was wohl auch mit seinem Glauben zusammenhängt, dass Weltgeschichte von großen Einzelnen gemacht wird – hier drischt der konservative Toynbee zumindest mit mehr ideologischer Berechtigung auf die ‚Linken‘ Marx und Wells ein, als auf sein primäres bête noire, den älteren, aber ebenfalls konservativen Bruder im Geiste Spengler.)
Toynbee wurde für eben diese Fehler schon bald kritisiert, und geriet, außer in seiner britischen Heimat, wo er irgendwie noch immer Kultstatus genoss, bald in Vergessenheit. Dort wäre er wohl geblieben, hätte ihn nicht Ende der 90er Jahre ein US-amerikanischer Polit-Wissenschafter namens Samuel Huntington in einem Buch namens Clash of Civilisations wieder ins Gedächtnis der Welt gerufen – Huntington, dem Toynbees These, dass das christliche Abendland die übrigen Zivilisationen übertreffen und überleben dürfe, müsse und solle, gerade recht in sein eigenes Weltbild passte, wo im vulgär-darwinistischen Sinne Hochkulturen mit Großreichen an der Spitze um die Weltherrschaft rangen.
Fazit: Auch als Kurzfassung nur eine Lektüre für Leute, die wirklich alles gelesen haben wollen, das im 20. Jahrhundert zum einen oder anderen Moment Furore machte. Und wer einen Universalhistoriker sucht, der ebenfalls Kulturen in den Mittelpunkt seiner Geschichtsbetrachtung gestellt hat, aber ohne diesen einen Lebenszyklus zuzuschreiben, ist mit Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit besser und gerade so ausführlich bedient.