Mit Ausnahme der etwas enthusiastisch-pathetisch geratenen Anpreisung der verwendeten Übersetzung (für alle, die sie im Beitragsbild nicht lesen können: Die unvergänglichen Strophen // des persischen Dichters // in der wundervollen Übertragung // von G. Fr. Daumer) – mit dieser Ausnahme also ist die vor mir liegende Ausgabe der Gedichte des persischen Dichters Hafis in deutscher Übertragung durchaus seriös und auch völlig unpathetisch. Wir finden, was man von einer anständigen Ausgabe erwartet: Nachwort des Herausgebers, Anmerkungen mit Wort- und Sacherklärungen, ein Inhaltsverzeichnis mit allen Gedichten, angeführt nach der ersten Zeile. Auch die Übersetzung selber ist seriös. Georg Friedrich Daumer kennt man heute vielleicht eher als zeitweiligen Erzieher des Findelkindes Kaspar Hauser oder als einen der frühen Kämpfer für einen Tierschutz. Aber seine Übertragung des Hafis gehört mit jener von Hammer-Purgstall, der von Rückert und schließlich der jüngsten von Vinzenz Rosenzweig von Schwannau zu den vier großen Hafis-Übersetzungen des 19. Jahrhunderts. Während die letzte als die genaueste gilt, so Daumers Werk als das sprachlich am besten gelungene.
Die Ausgabe selber erzählt ein Stück Verlags-Geschichte, die heute offenbar selbst beim Verlag vergessen gegangen ist. (Oder absichtlich verschwiegen wird?) Es liegt vor mir nämlich folgendes Büchlein:
Hafis: Eine Sammlung persischer Gedichte von Georg Friedrich Daumer. Herausgegeben und durchgesehen von Jan Tschichold. Basel: Verlag Birkhäuser, 1945. (= Sammlung Birkhäuser Band 7) [Daumer hat zwei Ausgaben von Gedichten des Hafis veranstaltet, die jeweils andere Verse enthielten. Beide Ausgaben sind hier zusammengefasst.]
Der Schutzumschlag weist auf eine weitere Reihe desselben Verlags hin: die Birkhäuser-Klassiker (Jeder Band drei Franken), enthaltend Keller, Meyer, Homer und andere. Birkhäuser kennt man heute als Fachverlag für Architektur. Seit längerem ist er unter dem Dach der Springer-Gruppe zu Hause. Dass früher einmal Ausflüge in die Veröffentlichung klassischer Belletristik gemacht wurde, ist etwas, das ich weder auf der Homepage des Birkhäuser-Verlags noch bei Wikipedias Artikel über eben diesen Verlag finde. Dabei, wie gesagt, waren diese Publikationen zwar fürs breite Publikum gedacht, aber inhaltlich wie in der Herstellung (Leinen-Einband!) qualitativ durchaus hochwertig. Ich vermute aber, dass der Birkhäuser-Verlag rund 50 Jahre zu spät auf diesen Zug aufgesprungen ist; das Bildungsbürgertum, das sich solche Bücher leisten konnte und wollte, weil sie im Salon so schön repräsentierten, war nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch inexistent geworden.
Zum eigentlichen Inhalt: Hafis ist bis heute einer der bekanntesten persischen Dichter. Er, der seinen Namen daher hat, dass er schon als Kind den ganzen Koran auswendig konnte, hat sich im höheren Alter offenbar dem Verfassen von Trink- und Liebesliedern gewidmet. Ein bisschen Erotik kommt auch vor. Ich weiß nicht, wie weit Daumer seine Übertragung gesteuert hat, aber interessant ist meiner Meinung nach vor allem, dass dieser Hafis, wie er hier vorliegt, sich nicht nur ausgiebig der Liebe und dem Wein widmet – er schimpft auch immer wieder über religiöse Institutionen wie Mönchsorden, Imame etc. (Daumers Verhältnis zur (christlichen) Religion war alles andere als unproblematisch.) Sein spiritueller Führer (und man kann das fast chemisch-wörtlich nehmen) ist der alte Schankwirt, eine Figur, die neben den Suleikas und Leilas des öfteren auftritt – immer mit einem guten Rat an das lyrische Ich, der sich meist so zusammenfassen lässt, dass man doch bitte das Leben genießen soll und sich nicht mit unnötigen Skrupeln quälen.
Solches aus der Feder eines Hafis (wie bereits gesagt: ein Ehrenname, der übersetzt bedeutet: Jener, der den Koran auswendig weiss)! Die orthodoxe Geistlichkeit (die, egal, ob muslimisch oder christlich, immer dieselben Reaktionen zeigt) verteufelte den Dichter entweder (worunter nicht nur das lyrische Ich seiner Gedichte leidet, sondern auch der reale Hafis litt), oder aber sie interpretierte die Gedichte um. Man las und liest sie allegorisch – so, wie die christliche Geistlichkeit das Hohe Lied allegorisch las und liest: als mystisch-verzückten Ausdruck der Liebe Gottes zu seiner jungfräulichen Kirche. Wie das angesichts der Auslassungen Hafis‘ gegen religiöse Institutionen und Autoritäten möglich sein soll, weiß ich nicht.
Im deutschen Sprachraum ist es unumgänglich, bei Hafis auch noch ein Wort über Goethe zu verlieren: Daumer erwähnt ihn bzw. seinen West-östlichen Divan in seinen Anmerkungen zwar nur ein einziges Mal. Er hat auch – offenbar bewusst – darauf verzichtet, den Begriff Divan für seine Übertragung zu verwenden. Goethe selber kann Daumers Werk nicht mehr gekannt haben; er war zum Zeitpunkt von dessen Veröffentlichung bereits tot. (Umgekehrt natürlich kannte Daumer ganz sicher Goethes Sammlung!) Wenn man nun Goethes Divan mit Hafis‘ Gedichten in der Daumer’schen Übertragung vergleicht, kann man nicht umhin, den Eindruck zu kriegen, dass Goethe der „bessere“, weil orthodoxere Muslim von den beiden gewesen ist. Beide Divane sind aber zweifellos Werke alternder Männer, die – zumindest für eine gewisse Zeit und zumindest in ihren Werken – wieder so leben, wie sie gern in ihrer Jugend gelebt hätten. Gerade deshalb aber, weil beide das Leben preisen und nicht den Tod beklagen, haben ihre Gedichte bis heute überlebt und sind bis heute lesenswert geblieben.