1715 zum ersten Mal erschienen, das letzte Mal zu Lebzeiten des Verfassers (in 5. Auflage) 1742. Dieser 5. Auflage folgt auch Band 1 der Werkausgabe, die Jürgen Rathje seit 2012 im Wallstein-Verlag herausgibt. (Mehr als dieser Band 1 ist noch nicht erschienen …)
Brockes ist dem weiteren Lesepublikum wohl am ehesten in Erinnerung durch Arno Schmidts Radio-Essay Nichts ist mir zu klein von 1955. Darin rühmt Schmidt den Hanseaten bekanntlich als den einzigen echten Realisten, da er in seinem Irdischen Vergnügen in Gott Natur und nur Natur beschreibt, keinen Menschen, keine Handlung, keine Psychologie. Das irdische Vergnügen ist seit Jahrzehnten auf Papier einzig in einer Reclam-Auswahl greifbar, und einer der Gründe für mein Abonnement der Werkausgabe war es natürlich, endlich das ganze Monster in die Finger zu bekommen. Aber kann man den Hamburger Senator und Amateur-Poeten heute überhaupt noch lesen? Und kann man noch anderes lesen, als Das Irdische Vergnügen in Gott?
Seine Selbstbiographie entpuppte sich ja als ziemlich papiernes Machwerk. Nun also der zweite grosse Brocken von Band 1: Brockes‘ Übersetzung eines italienischen Mini-Epos. Ich möchte vorausschicken, dass meiner Meinung nach die sprachschöpferische Arbeit eines Übersetzers meist unterschätzt wird. Neu auftauchende Objekte müssen ebenso ihr Pendant in der Zielsprache finden wie typische Redewendungen. Wenn die Reime des Originals wiedergegeben werden wollen, wird die Arbeit noch komplexer. Für die deutsche Sprache hat hier vor allem das 18. Jahrhundert viel geleistet. Wieland, Herder, Voß und auch die weniger Bekannten haben nicht nur die Werke ihrer jeweiligen Autoren einem grösseren Publikum erschlossen. Sie haben auch die Sprache selber um Wörter und Formulierungen erweitert, die Eigenarten des deutschen Sprachrhythmus erforscht und umgesetzt. Und sehr weit vorne am Anfang dieser Bestrebungen steht Brockes mit seiner Übertragung von Giovanni Battista Marino: La Strage de gli Innocenti (wörtlich: Das Gemetzel der Unschuldigen).
Bethlehemitischer Kinder-Mord
Nach einem Widmungsgedicht und einen Kupfer, der den Kindermord illustriert, folgt Brockes Übersetzung in vier Büchern. Der Text setzt ein nicht in Bethlehem, nicht bei Herodes, sondern in der Hölle, bei dem „ungeheure[n] Fürst der unterird’schen Grüfte“. Es ist ein grossartiger Anfang, die ersten 5 Strophen von Buch 1 können der Höllen-Beschreibung Miltons in Paradise Lost durchaus zur Seite gestellt werden. Was vielleicht auch daran liegt, dass hier kaum Handlung stattfindet. Der Fürst der Hölle ist an seinen Thron gefesselt und leidet Qualen. Er erlebt in einer Art Vision Jesu Empfängnis und Geburt. Es ist bezeichnend für jene Epoche, dass Brockes (bzw. vor ihm natürlich Marino) ohne Skrupel Figuren aus der griechischen Mythologie in seine christliche Hölle versetzt: Die Furien z.B. sind des Teufels beste Helferinnen. Eine von ihnen schickt er dann auch zu Herodes, um ihn vor jenem Erben des Thrones von König David zu warnen, der ihm gefährlich werden könnte. Es kommt, wie es kommen muss: Der Befehl zur Tötung aller Knaben in Bethlehem wird gegeben und der Leser in Buch 2 entlassen.
Dieses setzt dann zwar ein mit einer langen Rechtfertigungstirade des Herodes vor seinen Räten. Es wird räsonniert – auch auktoriell. Selbst vor Ausflügen in die Staatsphilosophie schrecken Herodes und sein Autor nicht zurück. Es ist Machiavelli (so, wie er volkstümlich rezipiert wurde), den Herodes vertritt. Mittlerweile gibt diese Verzögerung den himmlischen Mächten die Gelegenheit, Joseph durch eine Vision zu warnen.
Buch 3 ist dann völlig dem Gemetzel gewidmet, das der Italiener in seinem Titel versprochen hat. Es wird im Detail beschrieben, wie dieser und jener unschuldige Knabe umgebracht wird, meist gleich zusammen mit seiner Mutter. Es erscheint mir persönlich ja eher unwahrscheinlich, dass zu jener Zeit in jenem kleinen Kaff überhaupt so viele Menschen gewohnt haben sollen, wie hier nur Knaben zwischen 0 und 2 Jahren umgebracht werden.
Nachdem das Blutbad schon fast geendet hat, wird es in Buch 4 von einem gewissen „Malec“, dem „Bluthund“, noch einmal und mit vermehrtem Furor aufgenommen. Dieser Malec ist insofern interessant, als dass bis heute nicht klar ist, ob diese Figur wirklich einen historischen Ursprung hat oder ob es sich um eine Erfindung Marinos handelt. Malec, der die Befehle seines Königs quasi potenziert, ja erst dann die Ausführung so richtig anpackt, als den König bereits die Besinnung ergreift – das hat Potential. Leider wird das Potential von Marino nicht ausgeschöpft; er kehrt lieber zur Beschreibung des Gemetzels zurück. Den Schluss macht dann die Apotheose der Kinderseelen. Sehr konventionell; auch naiv, wenn gesagt wird, dass sich der Himmel über all das verspritzte Blut auch noch freue.
Fazit: Ich habe Langweiligeres gelesen, und von Zeit zu Zeit zeigt die Übersetzung die Klaue des Löwen. Dennoch nicht etwas, das man gelesen haben muss.
Herrn B. H. Brockes eigene Gedichte
Der zweite Teil des Werks von 1742 umfasst dann Brockes‘ eigene Werke. Es handelt sich um Gedichte aus (mehr oder weniger) öffentlichem Anlass. Nun sind diese Verherrlichungen eigener Bürgermeister und fremder Fürsten nicht gerade umwerfend. Aber, seien wir ehrlich: Die entsprechenden Gelegenheitsgedichte Goethes gehören auch nicht zu dem, was wir weiterempfehlen würden. Dass viele solcher Verherrlichungen die Form von Schäfergedichten angenommen haben, ist für uns Heutige ganz witzig, weil wir Schäfergedicht eigentlich mit Idylle gleichsetzen – was aber eine Entwicklung erst des 19. Jahrhunderts ist. Hier hingegen stehen wir praktisch am Ursprung der Schäferei, wo sie noch zu viel mehr dienen konnte – auch als politisch-persönliches Lobgedicht.
Alles in allem ist hier wenig wirklich Lesenswertes zu finden. Man staunt, wenn man hin und wieder einen der Schäfer Deutschland glücklich preisen hört aus Anlass irgendeiner Thronbesteigung – aber das haben wir schon im Bethlehemitischen Kinder-Mord gesehen: Um historische Exaktheit oder irgendwelche Kohärenz ging es Brockes nicht. Dafür sind auch Gedichte auf Französisch und vor allem welche auf Italienisch eingestreut.
Zwei-, dreimal zeigt sich der Autor des Irdischen Vergnügens in Gott – so, wenn in einer idyllischen Abendstimmung plötzlich braune Fledermäuse auftauchen. Nicht etwa gemeint als Stimmungsbrecher oder auch nur ironischer Kontrast: Sie gehörten für den genauen Beobachter Brockes einfach dazu und waren Teil der Idylle. Ein andermal beschreibt er einen einheimischen Marmor mit äusserster Präzision.
Alles in allem: Für den Schatzsucher und Perlentaucher eine Fundgrube. Aber wiederum nichts, das gelesen sein muss. Den (Früh-)Aufklärer Brockes sucht man hier sowieso vergeblich. Brockes wurzelt nicht nur im Kindermord sondern auch in diesen Gedichten noch ganz im Barock. Nur seine Sprache ist bereits schlichter, für heutige Begriffe auch eleganter.
1 Reply to “Barthold Heinrich Brockes: Verdeutschter Bethlehemitischer Kindermord des Ritters Marino nebst des Herrn Uebersetzers eigenen Werken”