Charles-Augustin Sainte-Beuve: Pour la critique

In einem schmalen weißen Rand links, einem breiten weißen Rand rechts, das Bild "Pfeil im Garten" ("Flèche dans le jardin") von Paul Klee (1929), das einen gezeichneten Garten zeigt, über dem ein nach rechte zeigender Pfeil schwebt. Das Gemälde wurde im Titelbild meiner Ausgabe verwendet; hier ist aber nur der Ausschnitt mit dem Pfeil zu sehen.

Vom Titel dieses Buches gibt es keine deutsche Übersetzung, ganz einfach, weil es keine deutsche Version vom Buch gibt. Ich habe, offen gestanden, nicht einmal nachgeschaut, ob es von Sainte-Beuve überhaupt etwas auf Deutsch gibt. Was wir hier aber auf Französisch vor uns haben, ist eine Zusammenstellung verschiedener Essays, die Charles-Augustin Sainte-Beuve im Laufe seines Kritikerlebens geschrieben hat (er lebte von 1804-1869, seine erste Kritik erschien – anonym – im Jahr 1824, als er offiziell noch Medizin studiert bzw. ausübte). Die Essays sind nach verschiedenen Themen sortiert und innerhalb dieser Themen wiederum chronologisch aufgeführt. Sainte-Beuve hat vorliegendes Buch in vorliegender Form also nicht selber geschrieben.

Wer war dieser Charles-Augustin Sainte-Beuve überhaupt? Die einfache Antwort lautet, dass er im Frankreich des 19. Jahrhunderts das darstellte, was in der Weimarer Republik Alfred Kerr oder in der BRD Marcel Reich-Ranicki waren: Starkritiker, Literaturpapst. Wie alle Literaturpäpste nicht unangefochten, zu Lebzeiten wie auch später noch: Im deutschen Sprachraum kennt man ihn am ehesten als ‚bête noire‘ von Autoren des 20. Jahrhunderts wie Verlaine oder Proust. Vor allem letzterer hat ihn unsterblich gemacht, mit seinem Versuch, sich seinerseits in einem Essay mit Sainte-Beuve auseinanderzusetzen – einem Essay, der dann so nie geschrieben wurde sondern zu jenem Großroman anwuchs, den man heute kennt als Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erst Bernard de Fallois, jener Literaturwissenschaftler, den ich vor kurzem wegen seines nicht sehr sorgfältigen Umgangs mit den Manuskripten Prousts angeprangert habe, hat aus Skizzen und Enwürfen Prousts ein Buch zusammengestellt, das er Contre Sainte-Beuve nannte. Contre Sainte-Beuve: Man erkennt, worauf der Titel unserer Zusammenstellung zielt – Pour la critique („Für die Kritik“) will ganz eindeutig Charles-Augustin Sainte-Beuve als Literaturkritiker (und als Literaturwissenschaftler bzw. -historiker) rehabilitieren.

Sainte-Beuves kritische Methode bestand darin, dass er sich zunächst einmal um die Biografie der zu besprechenden Autoren und Autorinnen (im vorliegenden Buch vor allem eine Autorin: George Sand) kümmerte. So, wie Buffon meinte Le style c’est l’homme („Der Stil ist der Mensch“), könnte man Sainte-Beuves Vorgehen zusammenfassen unter dem Satz „L’homme c’est l’œuvre“ („Der Mensch ist das Werk“). Kein Wunder, stellte sich Proust später gegen Sainte-Beuve – er, der in seinem Großroman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit genau das Gegenteil zu demonstrieren suchte: Es gibt für Proust nicht nur einen Menschen hinter der Fassade eines Gesichts – andere Zeiten, andere Umstände, ja auch nur eine andere Laune können einen völlig anderen Menschen zum Vorschein bringen. Wie sollte da ein literarischer Text über die Biografie des Autors bzw. der Autorin erklärbar sein? Im Übrigen hat Sainte-Beuve diese Art der Literaturkritik bei Walter Scott gefunden, mit ein Grund, weshalb Sainte-Beuve der Romantik zugerechnet werden muss. Auf diese Epoche weist auch Sainte-Beuves erklärtes Ideal einer Biografie, Boswells The Life of Samuel Johnson, LL.D., hin – wie wir festgestellt haben, ist Boswell durchaus schon als Romantiker zu betrachten. Die Beschränkung aufs Biografische in der Kritik zeigt aber auch auf den erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts auftretenden Positivismus in der Literaturwissenschaft hin.

So ist es denn nur natürlich, dass unser Buch mit einem Kapitel „Biografie“ beginnt – gemeint ist Sainte-Beuves Biografie und darin befindlich sind zwei (eigentlich ja: auto-)biografische Skizzen Sainte-Beuves erstellt von ihm selber. Wir erfahren von seinen Bemühungen, sich im Frankreich der Restauration zurecht zu finden, unter Louis XVIII und Charles X; er ist zwar ein friedlicher Bürger, kritisiert aber dann doch ersteren für seine übertriebenen Machtdemonstrationen. Der Kritiker und Literat wird deshalb, was er sehr wohl spürt, in der Folge bei der Verteilung von öffentlichen Ämtern zurückgesetzt (was für ihn auch ein finanzielles Problem darstellt). Über sein Leben in der Zweiten Republik schweigt er sich so ziemlich aus. Er wird erst unter Napoléon III Karriere machen; allerdings ist es da so, dass er ein erstes Amt als Lehrer niederlegen muss, weil seine republikanisch gesinnten Schüler es ihm unmöglich machen, Vorlesungen zu halten.

Auf die Biografien folgt zunächst ein allgemeines Kapitel „Über die Kritik“ (alle Übersetzungen der Kapitelüberschriften stammen von mir), wo er seine Art der Literaturkritik demonstriert anhand verschiedener (meist französischer) Autor:innen; dann ist da „Über die Lage der Literatur und die Bedingungen des Schriftstellers“, wo sich Sainte-Beuve in verschiedenen Essays ausführlich mit den Entstehungsbedingungen der Literatur seiner Zeit auseinandersetzt, er spricht von einer „industriellen Literatur“ und meint damit den gerade stattfindenden Umbruch von einer Szene des intensiven Lesens (man besitzt nur wenige Bücher, liest die aber immer wieder) zu einer des extensiven Lesens (wo man mehr Bücher kauft oder ausleiht, um ständig Neues zu lesen), ein Umbruch, der die Anforderungen an die Schreibenden völlig verändert – nicht zum Guten, wie Sainte-Beuve urteilt; zum Schluss finden wir ein Kapitel „Über die Autoren“ (die Herausgeber meines Buchs, Annie Prassoloff und José-Luis Diaz verwenden im französischen Original nur die männliche Form, was vielleicht dem Erscheinungsdatum des Buchs zuzuschreiben ist), wo sich Sainte-Beuve unter anderem auch seinen beiden literarisch-biografischen Herausforderungen stellt, Balzac und Baudelaire, die er beide offiziell seine „Freunde“ nennt, und mit deren Literatur er doch so wenig anfangen kann, denn Sainte-Beuves literarischer Geschmack ist sehr konservativ.

Fazit: Thematisch etwas ausgefallener ist dieses Buch wohl schon (weshalb es wohl seit seiner ersten Veröffentlichung 1992 noch keine Neuauflage erlebt hat, sondern noch immer in dieser Ausgabe greifbar ist). Aber wer sich für die Geschichte der Literaturwissenschaft und -kritik in Frankreich (oder im Allgemeinen) interessiert, sollte dieses Büchlein sehr wohl lesen.


Meine Ausgabe:

Sainte-Beuve: Pour la critique. Edité par Annie Prassoloff et José-Luis Diaz. Paris: Gallimard, 1992. (= folio essais, 202)

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