Die lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon. Nachdichtung von Paul Zech

Kennen Sie Klaus Kinskis Interpretation des Gedichts Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund? Wenn ja, wissen Sie wohl auch, welches Problem im vorliegenden Buch versteckt ist. (Wenn nein: Unbedingt anhören! Einfach auf YouTube nach „Kinski“ und „Erdbeermund“ suchen.) Das heißt: Wenn Sie wissen, welches Problem hier versteckt ist, dann ist es auch schon kein Problem mehr. Denn wenn man das Problem kennt, wird man das Buch anders lesen – so, dass das Problem Teil der Lektüre wird und somit kein Problem mehr ist.

Ich versuche zu erklären. Dafür aber muss ich kurz auf drei verschiedene Dinge bzw. Personen eingehen.

1. François Villon

Villon kam 1431 auf die Welt. Er absolvierte ein Studium in Paris. Wovon er danach genau lebte, ist nicht bekannt. Glitt er darin ab, war er schon immer Teil davon? Jedenfalls scheint er sich mit dem damaligen akademischen Proletariat abgegeben zu haben, das mehr oder weniger harmlose Studentenstreiche verübte, aber auch kriminellere Abenteuer nicht verachtete. Wenn das Geld nicht zu einem kam, ging man es halt holen. Und wenn eine verschlossene Tür zwischen diesen Studenten und dem Geld war, brach man sie halt auf. Auch vor Mord und Totschlag schreckte man wohl kaum zurück. Villon war selber in einen Raufhandel verwickelt und tötete dabei seinen Gegner. Es war wahrscheinlich sogar Notwehr, aber er wurde wegen Mordes zum Tod durch den Strang verurteilt. Ein Gnadengesuch ans Parlament rettete ihn sozusagen in letzter Minute. Eigentlich aber war Villon Dichter. Seine Gedichte weisen alle Züge der gelehrten Dichtung seiner Zeit auf – einer Dichtung, die heute nur noch die spezialisierte Literaturwissenschaft kennt. Auch Villon wäre wohl vergessen gegangen, wenn da nicht der Umstand gewesen wäre, dass er ein bisschen mehr und anderes zu erzählen hatte als der durchschnittliche Akademiker seiner Zeit. Und dass er in seinen Gedichten auch Gauner- und Gassensprache verwendete. (Dieses Phänomen zieht sich durch die Geschichte der französischen Literatur. Baudelaires Les fleurs du mal zum Beispiel sind formal oft klassische Sonette, sprachlich waren sie derart gewagt, dass sie zum Teil verboten wurden. Villon war in dieser Hinsicht eindeutig Baudelaires Vorbild gewesen – so, wie Villon überhaupt zur Inkarnation des Poète maudit wurden, den man zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert so verehrte.) Wann Villon gestorben ist, wissen wir nicht. Er ist eines Tages plötzlich von der Bildoberfläche verschwunden.

2. Übersetzen – aber wie?

(Im Folgenden stütze ich mich in vielem auf das Vorwort des Herausgebers Alexander Nitzberg zu meiner Ausgabe1).) Es gibt bekanntlich verschiedene Arten oder Theorien des Übersetzens (von Lyrik). Da ist die wörtliche Übersetzung, die bei Lyrik meist in Prosa daherkommt, dafür aber Satzbau und Wortschatz möglichst getreu nachbildet. Auf der anderen Seite finden wir Übersetzungen, die Rhythmus, Versmaß und Reimschema des Originals beibehalten wollen, dafür aber den Sinn oft sehr frei wiedergeben müssen. Das sind die beiden ‘klassischen’ Varianten.

Es gibt aber auch die Möglichkeit, und hier folge ich nun Nitzberg, die Qualität einer Übersetzung an der Rolle ab[zu]lesen, die sie in der Zielsprache spielt. Nitzberg verweist als Beispiel auf Edward FitzGeralds Bearbeitung des Rubáiyát von Omar Khayyán, die zum Schluss so sehr ‘englisch’ wurde, dass FitzGeralds Rubáiyát zu einem der meistzitierten ‘englischen’ Werke gehört. (Als ein ähnlich funktionierendes Beispiel bringt Nitzberg dann Goethes West-östlicher Divan vor. Allerdings hat Goethe hier nicht selber übersetzt, sondern sich auf die Hafis-Übersetzung von Rückert gestützt und sich den persischen Dichter daraus anverwandelt. Das andere Extrem sei dann, so Nitzberg, die Übersetzung, die ganz ohne Original auskommt. Er denkt dabei natürlich an den Ossian des James Macpherson. Da er sich bei seinen Exempeln offenbar auf die Lyrik konzentriert, erwähnt Nitzberg den Fall jenes Übersetzers nicht, der nicht Wort-, sondern Etym-getreu übersetzen wollte, was ihn beim englischen Wort „peninsula“ ein bisschen in die Bredouille brachte, weil er darin das Etym „Penis“ gefunden zu haben glaubte. Ich spreche selbstverständlich von Arno Schmidts Poe-Übersetzungen. (Wobei Schmidt, wenn er sich nicht ganz so hochgebirgsliterarisch fühlte, auch viel lockerer übersetzen konnte. Edward Bulwer-Lyttons What will he do with it? übersetzte er als Was wird er damit machen? Nachrichten aus dem Leben eines Lords, in eine flüssige und lebendige Sprache, die von vielen Kennern des Originals als bedeutend besser als die von Bulwer-Lytton eingeschätzt wird. Der Roman ist in Schmidts Übertragung jedenfalls ein großes Lesevergnügen, und sobald ich mein Exemplar wieder gefunden habe, werde ich es hier vorstellen.) Bei all diesen als Beispiele aufgeführten Übersetzungen (und ich wage jetzt, diejenigen Schmidts einzuschließen) hält Nitzberg fest:

Es wäre zu simpel und ungerecht, sie als Falsifikationen abzutun. Weil Literatur ihren eigenen Gesetzen folgt.

Was das mit der vorliegenden Nachdichtung durch Paul Zech zu tun hat, werden wir gleich sehen, zuerst aber noch zur Person von Zech.

3. Paul Zech

Paul Zech ist den meisten Literaturliebhaber*innen bekannt dadurch, dass Kurt Pinthus einige seiner Gedichte in die Anthologie Menschheitsdämmerung aufgenommen hat. Die Biografie Zechs, die Pinthus dort geliefert hat, ist allerdings in den letzten paar Jahren neu geschrieben worden. Nicht zum Vorteil Zechs. Die neuesten Forschungen zeichnen das Bild eines offensichtlich zwanghaften Lügners. So gab er zum Beispiel vor, sich mit einigen damals bekannten französischen Lyrikern in Paris getroffen zu haben, obwohl er nie in Paris war. Er gab vor, von ihnen Briefe erhalten zu haben, die er übersetzte und veröffentlichte. Der Autor der Briefe war er selber. Ebenso veröffentlichte er unter dem Namen eines französischen Kollegen Gedichte als dessen Übersetzungen. Es waren seine eigenen. Es leuchtet nicht ein, warum er das tat – einen Gewinn zog er ganz sicher nicht daraus. Am ehesten zog er noch Gewinn daraus, dass er, als Hilfsbibliothekar mit der Katalogisierung eines angekauften Nachlasses betraut, einige der Bücher (darunter die wertvollsten, jene, um deren Willen der Nachlass gekauft worden war!) verschwinden ließ und sie offenbar in diversen Antiquariaten verkaufte. Das Ganze flog auf und Zech flüchtete 1933 vor einer polizeilichen Vorladung nach Argentinien. (Er ließ dabei nicht nur Frau und Kinder in der Provinz im Stich, sondern auch eine andere Frau, die er in Berlin kennen gelernt hatte und bei Gelegenheit auch als seine Gattin ausgab.) In Anbetracht dessen, was wir nun wissen: Wundert es uns, dass er sich in Buenos Aires zum Widerstandskämpfer und Systemkritiker stilisierte, der vor der Gestapo fliehen musste?

4. Die lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon

Und nun wird es uns auch nicht wundern, wenn wir erfahren, dass Paul Zech auch bei seiner „Übersetzung“ der Gedichte des François Villon sehr, sehr frei vorgegangen ist. Tatsächlich ergibt ein Vergleich, dass er Villons Texte teilweise gekürzt oder / und mit eigenen Teilen vermischt hat. Ein Vergleich mit früheren Übersetzungen (von Richard Dehmel oder K. L. Ammer) zeigt, dass sich Zech am weitesten vom Original entfernt – aber die beste Lyrik verfasst hat. Teilweise nun aber er hat Zech gleich ganze Gedichte dieser Sammlung selber neu verfasst. Und eines dieser selber neu geschriebenen Gedichte nennt sich Eine verliebte Ballade für ein Mädchen namens Yssabeau und beginnt mit Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund.

Damit sind wir, wo wir das Aperçu angefangen haben. Allerdings müssen wir doch noch ein paar Worte sagen zur Biografie Das Leben des François Villon, die Zech den Nachdichtungen angefügt hat. Sie ist – wundert uns das noch? – größtenteils frei erfunden. Schon bei seinen Nachdichtungen zeigte sich, dass Zech (obwohl er sich auch schon mal Dr. phil. nannte – ein Schelm, wer hier an den Dr. Karl May denkt oder an das Mathematik-Studium des Arno Schmidt), dass Zech also nur rudimentäre literaturgeschichtliche Kenntnisse besaß. Zugegeben: Schon Dehmel hat die beiden Gedichte, die er übersetzte, Lieder genannt und wohl nicht nur Zech, sondern die gesamte deutsche Villon-Rezeption in die Irre geführt. Zech (und Dehmel?) geht deshalb offenbar davon aus, dass Villon noch mit der Laute (sie wird ein paar Mal erwähnt) an die Höfe ging, um dort seine Lieder vorzusingen. Aber was im Hochmittelalter noch der Fall war, galt in Villons Spätmittelalter schon nicht mehr. Gedichte wurden nicht mehr gesungen. Sie waren unterdessen im Aufbau so kompliziert geworden, dass ein mündlicher Vortrag diese Schönheiten (in damaliger Auffassung!) gar nicht mehr aufzeigen konnte. Sie wurden also auf- und allenfalls am Hofe in spezielle Bücher abgeschrieben. Beim Wort Ballade hingegen sitzt Zech wohl der deutschen Tradition auf, die unter dem Begriff „Ballade“ tatsächlich die versifizierte Nacherzählung einer meist tragischen Handlung versteht. Im Französischen aber ist eine Ballade etwas, das einen Zustand beschreibt. (Nur schon daran, ob eine der Balladen in diesem Buch einen Zustand oder eine Aktion schildert, kann man erkennen, ob und wie frei Zech seinem Vorbild gefolgt ist. Last but not least hält Zech den Franzosen für viel verdorbener als er es tatsächlich war. Wo Villon noch sich in guter mittelalterlicher Tradition (die wir auch im Deutschen kennen) etwas derber ausdrückt, als es heutzutage Usus ist, wird Zech auch gern vulgär.

Trotz aller Missverständnisse (beabsichtigter und unbeabsichtigter) von Seiten Zechs: Wir lesen hier zwar nicht Villon, aber wir lesen hier – zum Teil tatsächlich großartige – Lyrik des deutschen Expressionismus.


1) Die lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon. Nachdichtung von Paul Zech. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Alexander Nitzberg. Mit einer Biografie über Villon [verfasst von Paul Zech!]. München: dtv, 2021

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert