Johann Gottfried Schnabel: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, absonderlich Alberti Julii, eines geborenen Sachsens, auf der Insel Felsenburg

Schwarze Schrift auf hellem Grund: "Die Insel Felsenburg". - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Den Titel für dieses Aperçu habe ich bei zeno.org geklaut. Meines Wissens gab es nie eine gedruckte Ausgabe, die den Titel in dieser Form getragen hat. Aber der von zeno.org gewählte Titel weist für eine Veröffentlichung im Internet einen großen Vorteil auf. Der Originaltitel für den ersten Band von 1731 nämlich lautete, mit der auch aus dem sieben Jahre später erschienenen Irr⸗Garten der Liebe herum taumelnden CAVALIER von Schnabel bekannten barocken Übertreibung, wie folgt: Wunderliche Fata einiger See⸗Fahrer, absonderlich Alberti Julii, eines gebohrnen Sachsens, Welcher in seinem 18den Jahre zu Schiffe gegangen, durch Schiff-Bruch selb 4te an eine grausame Klippe geworffen worden, nach deren Übersteigung das schönste Land entdeckt, sich daselbst mit seiner Gefährtin verheyrathet, aus solcher Ehe eine Familie mit mehr als 300 Seelen erzeuget, das Land vortrefflich angebauet, durch besondere Zufälle erstaunens-würdige Schätze gesammlet, seine in Teutschland ausgekundschafften Freunde glücklich gemacht, am Ende des 1728sten Jahres, als in seinem Hunderten Jahre, annoch frisch und gesund gelebt, und vermuthlich noch zu dato lebt, entworffen Von dessen Bruders-Sohnes-Sohnes-Sohne, Mons. Eberhard Julio, Curieusen Lesern aber zum vermuthlichen Gemüths-Vergnügen ausgefertiget, auch par Commission dem Drucke übergeben Von Gisandern. Das wird man kaum in Gänze in einer Suchmaschine eingeben, meist verwendet man (wie auch bei Verweisen auf das Buch in den übrigen Medien) den Anfang dieses Bandwurms: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, absonderlich Alberti Julii, …. Dann aber ist rund 100 Jahre später, 1828, eine anonyme (wahrscheinlich von Ludwig Tieck in die Wege geleitete) gekürzte und sprachlich überarbeitete Version erschienen, die nunmehr den Titel trug: Die Insel Felsenburg. Auch danach wird oft gesucht (so man überhaupt nach Schnabels Werk sucht). Der Titel von zeno.org vereinigt elegant beide Suchbegriffe, weshalb auch ich ihn hier verwendet habe.

Dass man überhaupt noch nach ihm sucht, hat er wohl Arno Schmidt zu verdanken, von dem zwischen 1956 und 1987 (also auch noch postum) mindestens vier Essays zu diesem Autor erschienen sind. Dabei geht Schmidt zum Teil ziemlich rustikal vor, was insofern zu entschuldigen ist, als man in den 1950ern noch recht wenig über Autor und Werk wusste. Die Wunderlichen Fata einiger See-Fahrer von 1731 kannten noch drei Fortsetzungsbände. Schmidt behandelt diese, als ob sie von Anfang an geplant gewesen wären und wünschte sich einen Neudruck des gesamten Werks. Tatsächlich waren aber die Folgebände so wenig geplant wie jene zum Im Irr⸗Garten der Liebe herum taumelnden CAVALIER. In beiden Fällen sah Schnabel, dass das erste Buch Erfolg hatte und versuchte, mit Fortsetzungen davon zu profitieren, was er auch offen zugab. (Ein Schelm, wer Übles dabei denkt: So ein Vorgehen war zu einer Zeit, als Nachdrucker sogar von offiziellen staatlichen Stellen ermutigt wurden, für Autor und Verlag die einzige Möglichkeit, von einem Bestseller zu profitieren.) Bei Schnabel ist es in beiden Fällen, dass die Fortsetzungen zusehends schlechter werden und immer weniger mit der ursprünglichen Geschichte zu tun haben. Beim im Irr⸗Garten der Liebe herum taumelnden CAVALIER kann ich es aus eigener Erfahrung bestätigen, hier nun, bei den Wunderlichen Fata einiger See-Fahrer habe ich mir die Erfahrung gleich erspart.

Worum geht es in diesen Fata denn nun? Schnabel schildert uns, mehr oder weniger ausführlich, die Lebensgeschichten verschiedener Menschen im 17. Jahrhundert. Dazu lässt er Gisander, den „Herausgeber“ der Erzählung(en), auf einer Reise einen offenbar wohlhabenden Literaten kennen lernen. Dieser wohlhabende Mensch kommt bei einem Pferdewechsel unter die Kutsche und verstirbt alsbald an seinen Verletzungen. Gisander findet in seinen nachgelassenen Papieren die Geschichte, wie der Fremde und weitere Personen auf die Insel Felsenburg verschlagen wurden. Da der Fremde, eben der im Titel genannte Eberhard Julius, seinerseits die Lebensgeschichten anderer, zum Beispiel seines Verwandten Albertus Julius, hört und referiert, innerhalb derer unter Umständen noch eine Lebensgeschichte erzählt wird, haben wir ein recht komplexes Konstrukt von Verschachtelungen vor uns – zumal der Erzähler Eberhard Julius seine Zeugen des öfteren ihre eigenen Erzählungen unterbrechen lässt und auf seiner Erzählebene weiterfährt.

Die meisten Geschichten handeln von Bürgerlichen, die reich wurden, arm wurden und überhaupt unter den Wechselfällen des Lebens litten. Wir hören von Verrat, von Mord und Totschlag und finden viele üble Sachen in der Welt vor. Es kommt aber (relativ spät) der Moment, wo Albertus – zusammen mit zwei anderen Männern und einer Frau, der Gattin seines älteren Freundes – bei einem Schiffbruch an die Gestade einer Insel verschlagen werden, die sich als eine Art Paradies auf Erden entpuppt. Das Buch ist denn auch in erster Linie eine Anhäufung von Robinsonaden, wie der Autor selber zugibt. (Schnabel soll übrigens das Wort Robinsonade im Deutschen geprägt haben.) Nicht nur, dass nach Jahren weitere Schiffbrüchige auf die Insel verschlagen werden – es stellt sich schon früh heraus, dass die drei Deutschen gar nicht die ersten waren, die hier strandeten. Vielmehr finden sie in einer Höhle, gut konserviert, den Leichnam eines Mannes, von dem man bald herausfindet, dass er vor gar noch nicht so langer Zeit als letzter einer hierher verschlagenen Gruppe im Alter von 103 Jahren gestorben ist. Es handelte sich um einen spanischen Edelmann, dessen Lebensgeschichte als Anhang zum Schluss des ersten Buchs auch noch erzählt wird.

Die Gesellschaftsutopie, die man der Insel Felsenburg gerne unterschiebt, ist dem Autor, fürchte ich, erst in zweiter Linie untergekommen, schon fast aus Versehen unterlaufen. Irgendwann – es war ja von Anfang an eine Frau auf der Insel – kriegt man Kinder und man muss Männer für die Töchter und Frauen für die Söhne besorgen. Der Bevölkerungswachstum wiederum muss organisiert werden. Julius, der alte Patriarch, der als einziger des ursprünglichen Quartetts noch lebt, als Eberhard auf die Insel kommt, hat die Nachkommen seiner neun Kinder auf neun ‚Dörfer‘ aufgeteilt, in deren Zentrum er selber auf einem Hügel lebt. Es ist eine patriarchalisch-idyllische Gesellschaftsform, die hier gelebt wird. Man ist fromm (alle lutheranisch!) und verehrt den alten Patriarchen. Gesetze gibt es, jenseits dessen, was der lutheranische Glaube vorschreibt, so weit ich sehe keine. Geld wäre zwar vorhanden, wird aber auf der Insel selber nicht gebraucht. Zwischen den ‚Dörfern‘ herrscht Tauschhandel. Wirtschaftlich scheinen die Inselbewohner:innen autark zu sein. Da die Bevölkerung aus handverlesenen Personen zusammen gestellt sind, ist so etwas wie Rechtssprechung überflüssig – es gibt keine Verbrechen (mehr). Gegen außen tritt man unter holländischer Flagge auf, vermeidet aber nach Möglichkeit jeden Kontakt.

Soll man diese rund 400 Druckseiten heute noch lesen? Man wird sich schon nach den ersten Seiten des öfteren dabei ertappen, wie man Abschnitte nur noch überfliegt – zu sehr wiederholt sich Schnabel oder bring irrelevante Details vor. Seine Utopie ist recht unentwickelt; vieles muss man aus dem Gesagten erschließen. Wie anders hat doch Thomas Morus sein Utopia dargestellt, wie präzise hat der Engländer Sitten und Gebräuche geschildert! Nur schon deshalb vermute ich, dass es dem Deutschen viel mehr um die Robinsonaden ging als um die Darstellung einer Utopie, und dass das Buch wohl eher auch um der Robinsonaden willen gelesen wurde – jedenfalls legen die Fortsetzungen das Gewicht auf diese und nicht auf die Ausgestaltung der Utopie, so weit ich gesehen habe. Aber gerade deswegen finde ich die Wunderlichen Fata einiger See-Fahrer nicht uninteressant: Schnabel stellt, unbewusst und ungewollt, die bürgerlichen Träume vom Paradies des 18. Jahrhunderts vor uns.

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