Obwohl es nirgends so vermerkt ist – auf dem vorderen Buchdeckel steht als Reihentitel Fantasia. Aus dem Reich phantastischer Literatur. Herausgegeben von Jorge Luis Borges – lassen die bibliografischen Angaben (z.B.: Idee und Design von Franco Maria Ricci) keinen Zweifel daran, dass wir es hier mit einem Band aus der Bibliothek von Babel zu tun haben, die Borges ab 1974 zusammen mit eben jenem Ricci in Italien erstmals herausgegeben und bevorwortet hat. Das vor mir liegende Büchlein ist eine Lizenzausgabe der ersten deutschen Ausgabe (1984 im Weitbrecht Verlag), erschienen bei Bechtermünz, bzw. in Augsburg bei Weltbild im Jahr 2000.
Es enthält neben dem Vorwort von Borges (das allerdings auch nicht viel mehr als eine Zusammenfassung der einzelnen Kurzgeschichten bringt) fünf Kurzgeschichten des englischen Autors H. G. Wells. Diese decken verschiedene Genres ab und sind von guter bis sehr guter Qualität – Abstriche sind am ehesten für die erste und titelgebende Geschichte zu machen. Sie ist allzu vorhersehbar und auch belehrend.
Zuerst also das dem ganzen Büchlein den Titel verleihende Die Tür in der Mauer (auf Englisch als The Door in the Wall 1906 zum ersten Mal erschienen). Die Geschichte wird von einem ehemaligen Schulkameraden des eigentlichen Protagonisten erzählt, dem wiederum ebendieser von einer geheimnisvollen roten Tür in einer weißen Mauer erzählt, durch die er einmal, als kleines Kind, gegangen sei und seither nie wieder. Hinter der Tür habe sich ein Garten befunden und er habe andere Kinder getroffen, mit denen er herrliche Spiele gespielt habe. Leider habe er die Regeln vergessen und aus einen Gefühl der Pflicht, wieder nach Hause zu müssen, habe er den Garten verlassen. Zwar habe er die Tür des öfteren noch gesehen, nicht immer am gleichen Ort, aber immer in London. Aber jedes Mal, wenn er daran vorbei gekommen sei, habe er gerade Wichtiges zu tun gehabt, um seinen Rang und Namen in der Welt zu vergrößern. Nun aber, kurz vor seiner Ernennung zum Minister der neuen britischen Regierung, bereut er dies. Er schwört, beim nächsten Mal die Tür wieder zu öffnen und den Garten wieder zu betreten. Am nächsten Morgen erfährt der Ich-Erzähler, dass sein Schulfreund die versehentlich unverschlossen gelassene Tür zu einer Baustelle geöffnet habe und beim Sturz in die Baugrube gestorben sei. Die Moral von der Geschicht’ ist überdeutlich. Immerhin ist es Wells zu Gute zu halten, dass er dann doch (fast) darauf verzichtete, den Ich-Erzähler darüber sinnieren zu lassen, ob denn nun sein Freund auf Grund geistiger Überlastung eine Halluzination erfahren habe oder ob er – sozusagen beim Sturz in die Grube – tatsächlich seinen Garten wieder gefunden habe. Allerdings endet er mit den Sätzen: By our daylight standard he walked out of security into darkness, danger, and death. But did he see like that? (Ich zitiere auf Englisch, weil die deutsche Übersetzung hier ungeheuer kompliziert formuliert.)
Die zweite Erzählung trägt den Titel Plattners Geschichte und ist etwas kürzer. Auf Englisch heißt sie ganz einfach The Plattner Story und ist 1896 zum ersten Mal erschienen. Halb Science Fiction, halb Gruselroman erzählt sie davon, wie ein Schullehrer namens Plattner, der auch (obwohl er es nie studiert hatte und überhaupt von Naturwissenschaften keine Ahnung) Chemie unterrichtete. Dabei untersuchte er im Unterricht auch ihm völlig unbekannte Substanzen. Bei einer dieser Untersuchungen explodierte die zu untersuchende Substanz und Plattner wurde in eine seltsame Parallelwelt versetzt. Er sah und hörte zwar Teile unserer hiesigen Welt, konnte aber durch alles hindurchmarschieren, während der feste Boden, auf dem er tatsächlich ging, eine Art steiniger Hügel darstellte. In dieser Welt bewegen sich seltsame, kugelförmige Wesen. Wells verarbeitet in dieser Geschichte die damals neue mathematische Entdeckung einer vierten Dimension durch Charles Howard Hinton. (Wie denn auch in dieser und in anderen Geschichten des öfteren auf die Mathematik angespielt wird – allerdings ohne viel mehr als den Begriff selber zu verwenden.) Plattner, um zur Geschichte zurück zu kehren, kehrt seinerseits zurück in die ‚normale‘ Welt. Alles scheint wieder in Ordnung zu sein – nur, dass sich bei einer ärztlichen Untersuchung herausstellt, dass Plattners Herz nunmehr auf der rechten Seite schlägt. Auch kann er plötzlich mit der rechten Hand nicht mehr schreiben, dafür links – in Spiegelschrift. Tatsächlich scheint er, wie der Mensch, den ich im Spiegel sehe, irgendwie durch sich selber hindurchgedrückt worden zu sein.
Text N° 3, Die Geschichte des verstorbenen Mr. Elvesham (The Story of the Late Mr. Elvesham, 1896) ist zur Abwechslung reiner Horror. Der im Titel genannte Mr. Elvesham, ein alter Greis kurz vor dem Tod, bringt es durch ein geheimnisvolles Elixier zu Stande, dass der Ich-Erzähler, George Edward Eden, ein junger Mann im besten Alter, plötzlich an seiner Stelle in seinem Greisenkörper erwacht. Horror ist nicht mein Ding; aber in dieser Geschichte beweist Wells, dass er auch dieses Genre beherrschte.
Die beiden letzten Geschichten sind vielleicht die besten, auch wenn sie unterschiedlicher kaum sein könnten. An vierter Stelle steht in unserer Sammlung Das Kristall-Ei (The Crystal Egg, 1897). Ein Ich-Erzähler, der ansonsten keinen Anteil an der Geschichte hat, entdeckt zusammen mit einem Freund in einem Antiquitäten-Geschäft eine seltsame Kristall-Kugel – eben das Kristall-Ei des Titels. Der Händler, ein alter Mann, weigert sich allerdings unter allerlei Ausflüchten, das Ei zu verkaufen. Es stellt sich im Lauf der Geschichte heraus, dass er darin allerhand merkwürdige Dinge sieht: Wesen, die durch eine seltsame Landschaft schweben, offenbar angetrieben durch Flügel, die ihnen am Kopf sitzen, außerdem seltsame kugelförmige Gebäude. Auf Grund verschiedener Indizien ist der alte Antiquitäten-Händler zum Schluss gekommen, dass er durch die Kugel irgendwie auf den Mars versetzt wurde, kann sich aber nicht recht vorstellen, wie das geschieht. Heute, wo bereits kleine Kinder mit ihrem Smartphone so genannte ‚Video Calls‘ machen, ist der Schritt zur Idee, dass man dies auch über wirklich große Distanzen, mit einem fremden Planeten, machen könnte, natürlich nur noch ein kleiner. Damals stand nicht nur der alte Antiquitäten-Händler vor einem Rätsel. Die Geschichte endet hier; es geschieht weiter nichts, außer dass Händler und Kugel verschwinden. Man will aber darin den Nukleus zu Wells’ Roman The War of the Worlds vom folgenden Jahr gesehen haben; auch gibt Borges im Vorwort zu, dass ihn diese Geschichte zu einer eigenen, The Aleph (1949), inspiriert habe. Vielleicht die beste Geschichte der vorliegenden Sammlung.
Wenn da nicht Der Zauberladen (The Magic Shop, 1903) wäre. Hier wird Phantastisches mit einer Prise Horror unterlegt, gleichzeitig aber auch mit Humor gewürzt. Es geht um einen seltsamen Zauberladen, den der Ich-Erzähler zusammen mit seinem Sohn Gip (der ungefähr 10 Jahre alt sein muss) besucht. Der Besitzer des Ladens führt ihnen allerlei Zaubereien vor, die nur auf den ersten Blick wie die üblichen Kunstfertigkeiten eines Variété-Künstlers wirken, auf den zweiten aber – zumindest für den Erwachsenen – allzu echt scheinen. Diese Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung des Erwachsenen und der des Kindes sorgt denn auch immer wieder für humorvolle Momente. (Und ja: Die Schilderung des Vaters, der eindeutig Gewissensbisse verspürt, weil er seinem Sohn viel zu wenig Zeit widmet und diese Gewissensbisse mit Geschenken zu stillen versucht, beinhaltet in sich eine Kritik an der damals – und, seien wir ehrlich: auch heute noch – üblichen Art der Verteilung der Lasten in Haushalt und Kindererziehung.)
Borges wusste, was er auslesen musste für seine Bibliothek von Babel. Jedenfalls ist diese Auswahl aus den Werken von H. G. Wells durchaus etwas für Genießer:innen des Genres.