Nicht ganz 4½ Jahre ist es her, seit ich das letzte Mal einer Lesung beigewohnt habe – eine lange Zeit, die nicht nur (aber auch) durch die Pandemie zu erklären ist. Nun aber war ich vergangenen Mittwoch wieder einmal an einer Lesung. Sie fand wie jene vor 4½ Jahren in Zürich statt, dieses Mal als Veranstaltung des Zürcher Literaturhauses. Lesen sollte Kettly Mars, deren zuletzt ins Deutsch übersetzten Erstlings-Roman Kasalé ich ja vor kurzem hier vorgestellt habe.
Unterwegs testete ich etwas Zürcher ‚Food-to-go‘, aber das Wetter meinte es nicht gut mit mir. An Stelle eines Blicks auf den abendlichen See, sah ich praktisch nur verregnete Straßenbahnen und O-Busse – davon aber immerhin ein paar der neuesten Modelle. Die Stadt Zürich hat da vor kurzem offenbar ziemlich aufgerüstet.
Die Lesung selber hat aber eine Reise auch im schlechten Wetter gelohnt. Das Podium im Vortragssaal war mit drei Pulten bestückt, rechts (aus Sicht des Publikums) stand noch ein weiteres. Oben saßen, von links, Isabelle Vonlanthen (stellvertretende Leiterin des Literaturhauses), die das Gespräch mit Kettly Mars (die kein Deutsch spricht) jeweils von Zeit zu Zeit kurz aus dem Französischen übersetzte bzw. deutsche Zusammenfassungen lieferte. Sie erledigte diese Aufgabe mit Bravour – auch wenn sie sich von Zeit zu Zeit energisch zur Wehr setzen musste, wenn die beiden Diskutierenden, Ursula Bähler und eben Kettly Mars, wieder einmal im Eifer des Gefechts völlig vergaßen, dass selbst in der mehrsprachigen Schweiz nicht alle, nicht einmal alle an Literatur Interessierten, gesprochenes Französisch verstehen oder diese Sprache sogar selber sprechen. Damit habe ich auch schon die beiden anderen Pulte ‚bestückt‘: in der Mitte Ursula Bähler als Moderatorin und rechts Kettly Mars als Star des Abends. Am Pult rechts außen stand Susanne-Marie Wrage, die aus der deutschen Übersetzung las. (In der ersten Reihe des Publikums saß außerdem – ich erkannte den Namen – der Verleger des Buchs Kasalé, Peter Trier von Litradukt.)
Kettly Mars selber las nur einen kurzen Abschnitt ihres Buchs – auf Französisch. Das war vielleicht auch gut so, denn sie gehört zu den gar nicht so seltenen Autor:innen, die nicht lesen können. Wo sie in freier Rede temperamentvoll, witzig und klug argumentiert, bleibt sie beim Lesen farblos. Je nun, umso besser las Wrage.
Ursula Bählers Fragen drehten sich in vielen Fällen um bestimmte, für uns als ‚typisch haïtianisch‘ geltende Themen oder Wörter. Das fand ich persönlich schade, denn meistens waren die Erklärungen vor Ort auch nicht ausführlicher oder gar andere als jene, die die Übersetzerin des Romans, Ingeborg Schmutte, bereits im Buch geliefert hatte. Da ich andererseits in den Vorzug eines Rezensionsexemplars gekommen war, hatte ich einen Wissensvorsprung. Die übrigen Anwesenden, so weit sie den Roman schon gelesen hatten, konnten vieles wohl nicht wissen; offenbar wurde die deutsche Übersetzung praktisch an diesem Abend ausgeliefert und in der französischen Version scheinen solche Informationen zu fehlen. (Was natürlich auch daran liegt, dass Haïti, dass die französischsprachigen Antillen überhaupt, den Franzosen näher liegen als uns – also da das eine oder andere Stück Wissen eher vorausgesetzt werden kann und wird.) Es war natürlich schade, dass Frau Schmutte nicht ebenfalls anwesend war, aber in Anbetracht ihres an diesem Abend bekannt gegebenen Jahrgangs (1930) auch verständlich. Jedenfalls habe ich erst an diesem Abend wirklich realisiert, welch ausgezeichnete Arbeit sie hier geleistet hat, als sie ganz unaufdringlich alle notwendigen Informationen in ihren Anmerkungen lieferte.
Menschlich (und damit natürlich interessant, wer will es leugnen?) wurde die Diskussion in dem Moment, als Kettly Mars davon sprach, dass sie seit Kabalé viele weitere Romane geschrieben hat, von denen jeder wieder ein Stück ‚härter‘ war als der Vorgänger. In Anbetracht der Entwicklung Haïtis seit 2010 kein Wunder, aber Kettly gab selber zu, dass sie eigentlich keine Lust mehr habe, immer härtere Bücher zu schreiben, und sich danach sehne, wieder ein Buch zu schreiben, das nicht nur realistisch ist, sondern wieder wie ihr Erstling dem magischen Realismus zugerechnet werden kann.
Bei den folgenden Fragen aus dem Publikum fiel mir auf, wie stark das Gewicht von Autorin wie Leserinnen darauf gelegt wurde, dass hier im Grunde genommen existierende Personen dargestellt wurden, dass es das Dorf Kasalé gibt und dass Antoinette, die Matriarchin des Dorfs, tatsächlich von Kettly Mars besucht wurde, weil die Autorin tatsächlich auf der Suche nach ihren spirituellen Wurzeln war. Ja, bei einigen Fragen kam mir der Verdacht, dass Voodoo (Kettly Mars und der Verlag schreiben prinzipiell Vodou, um zu betonen, dass sie die spezifisch haïtianische Version meinen, einen synkretistischen Glauben, der sich daraus entwickelte, dass man die schwarzen Sklavinnen vor der Überfahrt in die neue Welt zwangsweise zum katholischen Glauben bekehrte und sie ihrem alten Glauben nur weiter anhängen konnten, wenn sie die alten Götter und Göttinnen unter dem Deckmantel von katholischen Heiligen ansprachen) – der Verdacht kam mir, wollte ich sagen, dass Voodoo in den 2020ern die Rolle einnehmen könnte, die der Krishna-Hinduismus vor 50 Jahren gespielt hatte. Allerdings warnte Mars davor, dass auch Vodou missbraucht werden könnte und brachte das Beispiel des haïtianischen Diktators Papa Doc, der sich als Baron Samedi gerierte, der Geist des Todes, der auch Gedanken lesen konnte. Einzig der Familie könne man diesbezüglich vertrauen, meinte sie. Ob sie, bzw. die Fragestellerinnen, realisierten, dass Mars damit jedem ‚Übertritt‘ von Europäer:innen den Riegel schob? Es war jedenfalls ein sehr diplomatischer Schachzug, wie ich finde.
Nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung durfte man dann sein Buch auch signieren lassen. Da niemand außer Ursula Bähler das französische Original dabei zu haben schien, und man sich das gerade erst erschienene deutsche Exemplar zuerst noch draußen vor der Tür kaufen musste / durfte / konnte, war ich sozusagen der erste in der Schlange. Kettly Mars war sehr nett und hat mir auch einen netten Satz ins Buch geschrieben. Und auf meine Frage bestätigte sie mir, dass der Roman zur Zeit der Herrschaft von Papa Doc Duvalier spielt.
Dann, schon fast auf dem Weg nach Hause, kreuzte ich noch Peter Trier, und mich ritt ein kleines Teufelchen. Ich fragte ihn, ob er mir das Buch auch noch signieren würde. Er war ein bisschen irritiert. So eine Anfrage habe er noch nie bekommen. Dann aber setzten wir uns rasch an einen Tisch und er signierte tatsächlich. Wir plauderten dann noch ein wenig über Kasalé und Irrschweifen und Lachen, das aller-, allerneuste Buch aus dem Verlag. Es soll, so hörte ich, im Oktober dieses Jahres ein weiteres Buch aus der Region herauskommen. Ich bin gespannt.
Zufrieden ging ich nach Hause. Und natürlich hatte der Regen in der Zwischenzeit aufgehört …