Fünf Jahre vor dem ersten Band seiner U.S.A.-Trilogie, also 1925, erschien John Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer. Bis heute ist er wahrscheinlich bekannter als die folgende Trilogie, ganz sicher im deutschen, wohl aber auch im englischen Sprachraum. Das hat seine Gründe, auf die ich im Folgenden kurz eingehen will. Den Titel seines Romans hat der Autor übernommen von einem Kreuzungs- oder Umsteigebahnhof (interchange / transfer station) in New Jersey, rund 15 km von der großen Pennsylvania Station New Yorks entfernt. Manhattan Transfer erfüllte zwei Zwecke. Einerseits gab sie Passagieren die Möglichkeit, auf Nebenlinien der Eisenbahngesellschaft zu wechseln, andererseits ermöglichte sie dieser, die über Land verwendeten Dampflokomotiven gegen elektrische zu tauschen, mit denen die Fahrt durch den Tunnel unter dem Hudson River möglich war. Die Station war – vielleicht als einzige der Welt – nur mit der Bahn erreichbar; es führte weder eine Autostraße noch ein Fußweg dorthin. Im Zuge weiterer Neuerungen und Änderungen im Bahnverkehr wurde die Station 1938 abgerissen.
Dos Passos’ Roman besteht aus drei Teilen, der erste und der letzte mit fünf, der mittlere mit acht Kapiteln. Der erste Teil spielt vor dem Ersten Weltkrieg, der zweite währenddessen und der dritte nachher. Die Eisenbahnstation selber kommt darin, wenn ich das richtig sehe, ein einziges Mal vor. Der Autor verwendet den Begriff ‚Manhattan Transfer‘ in einem übertragenen Sinn. Der größte Teil des Romans spielt nämlich im New Yorker Stadtteil Manhattan. Der ist für Dos Passos das Sinnbild des (US-amerikanischen) Daseins. Er vibriert von Leben, aber auch der Tod ist immer präsent. Der Transfer, der in Dos Passos’ Manhattan stattfindet, ist nicht ein geografischer wie bei der Eisenbahnstation sondern ein sozialer und ökonomischer. Menschen steigen darin auf von Armut zu Reichtum oder sinken ab von Reichtum zu Armut. So oder so gehen die meisten dabei zu Grunde. Kaum jemand entkommt dieser Maschinerie lebend – ich habe selten einen Roman gelesen, in dem so viele Selbstmorde von Protagonist:innen begangen werden.
Und Protagonist:innen gibt es viele. Wie später in der U.S.A.-Trilogie verfolgt Dos Passos nicht das Leben einer einzigen Person oder einer kohärenten Gruppe. Es sind viele einzelne, von denen er erzählt. Manche tauchen immer wieder einmal auf, andere spielen vielleicht nur in einem Kapitel eine Rolle. Einige wenige treffen im Laufe des Romans aufeinander, die meisten aber nicht. Eine Zusammenfassung des Plots ist nicht möglich; die englischsprachige Wikipedia hat es versucht, indem sie die Geschichten der wichtigsten Protagonist:innen zusammenfasste. Wer will, kann dort nachlesen.
Man sieht: Wir finden im Aufbau von Manhattan Transfer bereits vieles, in einen Roman zusammen gepresst, das Dos Passos später in der U.S.A.-Trilogie in drei Romanen expandieren würde. Was aber in Manhattan Transfer doch anders daher kommt, ist die Erzählweise. Hier erzählt Dos Passos – wenn wir vom Gewimmel der unzähligen Protagonist:innen einmal absehen – doch recht konservativ. Keine Newsreels, keine eingeschalteten Biografien berühmter Persönlichkeiten, kein Camera Eye mit im Stil des Bewusstseinsstroms eingestreuten Erinnerungen des Autors selber. Einfach Geschichten aus dem Alltag der Protagonist:innen.
Hier liegt wohl auch der Grund für die größere Beliebtheit dieses Romans im Vergleich zur späteren Trilogie. Abgesehen von der reinen Masse Text – jeder Teil der U.S.A.-Trilogie ist ungefähr so lang wie Manhattan Transfer alleine – ist der Aufbau hier zwar komplex genug, aber immer noch durchsichtiger als in der Trilogie. Bösartig formuliert steht Manhattan Transfer im gleichen Verhältnis zur U.S.A.-Trilogie wie der VW Käfer (Gott hab ihn selig) zu einem VW Golf der letzten Generation. Die grundlegende Technik der Vorwärtsbewegung ist immer noch dieselbe, aber nicht nur die Größe des Wagens ist eine ganz andere. Wo der Käfer noch für jeden halbwegs begabten Schrauber offen war, hat man bei den vielen neuen Details des Golf keine Chance mehr, wenn man nicht vorgängig sehr viele Stunden mit weiterführender Lektüre verbringt. Der Vergleich hinkt, ich weiß. Natürlich kann jede:r jedes Buch mit Gewinn lesen und verstehen – zumal es das einzig richtige Verständnis eines Buch sowieso nicht gibt. Ich habe ja selber die Trilogie lange vor dem Roman hier gelesen. (Den habe ich nämlich dieses Jahr zum ersten Mal überhaupt in die Hände genommen.) Manhattan Transfer ist ein großartiges Buch, man verstehe mich nicht falsch. Es verlangt bei der Lektüre sehr viel Ausdauer. Die U.S.A.-Trilogie verlangt einfach noch mehr. Beide aber können ihren Lesenden sehr viel bringen.