Alexandre Dumas: The Nutcracker [OT: Histoire d’un casse-noisette / dt.: Geschichte eines Nussknackers]

In den Farben grün, gold, rosa, schwarz und weiß gehaltene Karikatur von an einer Weihnachtsbescherung herumliegendem Spielzeug. In der Mitte das Gesicht (riesige Augen, riesiger Mund) eines Nussknackers. – Ausschnitt aus dem Buchcover.

Wer beim Titel dieser Erzählung von Alexandre Dumas dem Älteren an E. T. A. Hoffmanns Märchen Nussknacker und Mausekönig denkt, hat natürlich Recht. Tatsächlich handelt es sich bei Dumas’ Text weniger um eine Übersetzung denn um eine Nacherzählung. Um eine ziemlich getreue allerdings; Dumas hat nichts weggelassen, das für die Handlung an und für sich relevant wäre, und – für seine Verhältnisse – auch recht wenig zur Geschichte hinzugefügt: den Ort der Handlung zum Beispiel (Nürnberg), detailliertere Beschreibungen des Äußeren oder auch des Inneren seiner Figuren (will sagen: Dumas versucht, die Handlungen seiner Figuren etwas ausführlicher als Hoffmann zu motivieren) und einige Dialoge, die demselben Ziel dienen. Ein paar Namen hat er geändert und eine oder zwei winzige Nebenrollen gestrichen. Wer sich für den Inhalt des Märchens interessiert, kann ihn im Aperçu zu Hoffmann nachlesen.

Am auffallendsten ist wohl der Erzähler, den er hinzu fügt. Beim Franzosen beginnt das Märchen mit einer in der Ich-Form erzählten Einleitung, in der ein Mann, von dem wir nur erfahren, dass er fait des histoires (Geschichten herstellt), davon berichtet, wie er, bzw. seine Tochter, zu einer Kinderparty eingeladen ist. Vor Ort aber wird es ihm rasch zu laut. Er zieht sich in ein Zimmer zurück, das, wie er sieht, bereits vorbereitet worden ist für das abschließende Kuchenbuffet. Dort setzt er sich in einen bequemen Sessel und – schläft ein. Wie er wieder erwacht, merkt er, dass er nicht mehr aufstehen kann. Die Kinder haben ihn, attaché à mon fauteuil avec non moins de solidité que l’était Gulliver sur le rivage de Lilliput. Erst als er verspricht, ihnen ein Märchen zu erzählen, wird er freigelassen. Er gibt auch sofort zu, dass er ein Märchen von Hoffmann nacherzählt, aber die Kinder legen zu seiner Enttäuschung keinen Wert auf ein Original-Werk von ihm. Er erzählt also die Geschichte, ohne weiter in sie einzugreifen. Auch am Schluss kommt er nicht mehr vor. (Mag sein, in der Sammlung, in der Alexander Dumas das Märchen erscheinen lässt – Contes von 1844 –, kam er noch einmal vor, da dort mehrere Märchen erzählt werden. Ich habe das nicht nachgeprüft, weil es für meine Zwecke irrelevant ist.)

Was Alexandre Dumas weglässt, verändert allerdings den Charakter von Hoffmanns Märchen grundlegend. Hoffmanns Erzähler wird zwar nie persönlich eingeführt und bleibt diesbezüglich anonym im Hintergrund; er wendet sich aber aus diesem Hintergrund immer wieder an seine Figuren und spricht sie an, diese seine Figuren stellvertretend fürs lesende Publikum nehmend. (An das er sich aber auch hin und wieder direkt wendet.) Hoffmann bringt in seinen kleinen Ansprachen winzige Spitzen unter, die sich oft gegen seine Figuren wenden und damit gegen die Erzählung als solche. Das ist Hoffmanns Interpretation und Anwendung der romantischen Ironie Friedrich Schlegels. Bei Dumas finden wir diese Spitzen nicht mehr. Er (bzw. sein Erzähler) nimmt seine Figuren ernst.

Nun aber ist da Folgende geschehen: Dadurch, dass Alexandre Dumas seine Histoire d’un casse-noisette einer Bande von Kindern als conte, als Märchen, erzählen lässt, verschiebt er das Märchen vom Nussknacker und dem Mausekönig definitiv aus der Erwachsenen- in die Kinderliteratur. Wir erinnern uns: Hoffmanns Erzählung ist in der letztgültigen Form von 1819 Bestandteil seines Zyklus Die Serapionsbrüder. Dort wird das Märchen zwar von Lothar, dem nachmaligen Erzähler (bzw. Vorleser, schon das zerstört im Grunde genommen jeden Anklang ans volkstümliche Kindermärchen) als Kindermärchen eingeführt. Nach dem Vortrag wird aber diese Qualifizierung von den Serapionsbrüdern durchaus kontrovers diskutiert. Dabei scheiden sich die Geister vor allem an der Frage, ob dieses Märchen mit seinem ironischen Grundton und seiner komplizierten Handlung in verschiedenen Welten, die sich mischen, überhaupt für Kinder geeignet sei. Eine abschließende Antwort finden die Serapionsbrüder nicht. Aber schon 25 Jahre später scheint, stellvertretend für die weitere Rezeption des Nussknackers, für Dumas die Antwort klar zu sein: Es handelt sich um ein Kindermärchen.

Soweit die Rezeptionsgeschichte. Dumas’ Bearbeitung wäre aber wohl trotz dieses interessanten Details im Wust seines Vielschreibens untergegangen, wenn er damit nicht – Musikgeschichte geschrieben hätte. Unbeabsichtigt. Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Ballett Щелкунчик („Der Nussknacker“) von 1892 nämlich basiert nicht, wie man im deutschen Sprachraum instinktiv annimmt, direkt auf Hoffmanns Text sondern auf der vorliegenden Bearbeitung durch Alexandre Dumas, die tatsächlich bildlicher und sinnlicher gehalten ist als das deutsche Original. Tschaikowskis Ballett ist bis heute fester Teil des Weihnachts-Repertoires so manchen Theaters und Opernhauses. So kennen viele (im deutschen Sprachraum die meisten wohl, ohne es zu wissen) Dumas’ Bearbeitung heute noch.

Nun, Alexandre Dumas der Ältere hat weit Schlimmeres verfasst als diese Bearbeitung.


PS. Noch ein Wort zum Titel des Aperçu. Dumas Bearbeitung des Nussknackers stand schon lange auf meiner (virtuellen und wohl Hunderte von Titeln umfassenden) Liste von Texten, die ich ‚irgendwann‘ noch einmal lesen wollte. Nun ist er mir dieses Jahr (2024) in einer reich illustrierten englischen Übersetzung – ich weiß nicht, von wem sie stammt, finde keine Angaben im Buch – in die Hände gefallen, natürlich bei der Folio Society erschienen. Deshalb der englische Titel. Die deutsche Übersetzung ist, wenn ich mich recht erinnere, vor etwa 50 Jahren zum letzten Mal als Insel-Taschenbuch erschienen, aber schon lange vergriffen.

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