Karl Wilhelm Ramler (1725-1798) schrieb zwar auch Gedichte (meist im anakreontischen Stil), war aber schon zu seiner Zeit weniger als Dichter bekannt denn als Literaturtheoretiker und -vermittler. Als solcher gehörte er zu jener Gruppe der Berliner Aufklärer, die sich bemühte, die Konkurrenzfähigkeit der deutschsprachigen Dichtung mit der französischen Literatur nachzuweisen und zu fördern – eine Sisyphus-Arbeit zur Zeit des dezidiert frankophilen Friedrich II. und erst von Erfolg gekrönt unter dessen Nachfolger, Friedrich Wilhelm II. Neben der eigentlich theoretischen Arbeit finden wir in Ramlers Werkverzeichnis auch viele Sammelausgaben von Werken seiner Freunde, die er nach ihrem Ableben zu ihrem Gedenken erstellte.
Das vor mir liegende Buch gehört im weiteren Sinn ebenfalls zu den literatur-, oder sagen wir besser: kunsttheoretischen Arbeiten Ramlers. Wobei es sich eigentlich um zwei Bücher handelt.
Da ist das 1788 zum ersten Mal erschienen kleine Werk Allegorische Personen zum Gebrauche der Bildenden Künstler, das meine Ausgabe allerdings nach der eigentlich später, nämlich 1790, zum ersten Mal erschienenen kurzgefaßten Mythologie abdruckt. Auf diese meine Ausgabe komme ich noch.
Die allegorischen Personen bestehen aus einer Auflistung verschiedener theoretisch-abstrakter Substantive wie Wahrheit, Kaufmannschaft oder Ackerbau und einer Beschreibung dessen, wie sie üblicherweise / bisher in Gemälden oder Skulpturen allegorisch, d.h. meist in menschlicher Form, wiedergegeben wurden. Vom Aufbau her ist das kleine Büchlein eindeutig als Handbuch für die produzierende Kunst gedacht, denn das rezipierende Publikum, vor einer solchen allegorischen Darstellung stehend, müsste, um herauszufinden, was gemeint sein könnte, jedes Mal alle Begriffe durchlesen, um das herauszufinden. Im Übrigen ist der Text – zumindest in meiner Ausgabe – ohne hilfreiche Abbildungen abgedruckt.
Interessanter, und in meiner Ausgabe nicht zu Unrecht als erstes abgedruckt, ist die kurzgefaßte Mythologie. Ramler ist meines Wissens der erste, der den Versuch machte, die antike Mythologie fürs deutsche Publikum zusammenzufassen und zugleich zu systematisieren. Er steht damit zwischen Pausanias (den er als eine seiner Quellen angibt) und dem späteren Gustav Schwab. Während Pausanias in der Art eines Reiseführers einfach schildert, was er vor Ort gefunden hat und welche Geschichten an den besuchten Kultstätten erzählt werden (was einen bunten Strauss von einander zum Teil widersprechenden Göttergeschichten ergibt), hat der Gymnasiallehrer Schwab im 19. Jahrhundert den Strauss ausgekämmt, will sagen: Er hat den Wildwuchs an Geschichten, die im Altertum erzählt wurden, in eine zusammenhängende und in sich stimmige Erzählung umgegossen. Varianten wurden erbarmungslos getilgt, der Wildwuchs mit der philologischen Sense weggeschnitten.
Ramler seinerseits beginnt auch bereits zu systematisieren, wenn auch noch nicht im Ausmaß des späteren Schwab. Er tut das, indem er die Geschichte(n) der antiken Gottheiten in eine Art genealogischen Zusammenhang stellt. Das läuft konkret so ab, dass das Buch anhebt mit Saturn als dem Vater Jupiters und damit dem Ahnherrn der ganzen antiken Götterwelt. Saturn führt zwanglos zu Jupiter und dann dessen Kindern und so fort, bis Ramler dann am Ende des (ursprünglichen) zweiten Bands bei all den kleinen, meist lokalen und bestimmten Aufenthaltsorten zugeordneten Naturgottheiten aufhört wie Nymphen, Sylphen usw. Anders als Schwab systematisiert er nur teilweise, zeigt aber allfällige Widersprüche auf. Anders als die zwei Jahre früher erschienenen Allegorischen Personen ist dieses Werk nicht an Kunst-Produzierende gerichtet sondern an Kunst-Rezipierende. Ein Inhaltsverzeichnis erleichtert das Auffinden der jeweiligen Gottheit. Die Nacherzählungen ihrer Taten sind kurz und kunstlos.
Was uns heute auffällt: Wir sind es – im Grunde genommen seit Schwab, seit der Romantik – gewöhnt, die antiken Gottheiten bei ihrem alten, griechischen Namen zu nennen. Ramler ist noch der Vertreter der Aufklärung bzw. Renaissance, die der Meinung waren, die antike Mythologie hätte erst in Rom ihre vollendete Form gefunden. So benutzt er praktisch überall die lateinischen Namen der Gottheiten. Auch nimmt er, wie es Rom in seinen letzten Jahren tat, verschiedene ursprünglich ägyptische Gottheiten in sein Pantheon auf.
Dass wir heute nur noch das stark zurecht gebügelte Pantheon im Stil von Gustav Schwab kennen, ist im Grunde genommen ein Verlust. Auch Ramler orientiert sich natürlich stark an Homer, aber er kennt und nennt auch andere Quellen, lateinische wie griechische. Das macht seine Mythologie trotz des trockenen Stils, trotz der Lexikon-artigen Reihung, irgendwie lebendiger als es die sterile Götterwelt Schwabs ist.
Irgendwie ist es also schade, dass Ramlers Werk zusammen mit ihm im Orkus der Vergessenheit gelandet ist. Dabei war es zu seiner Zeit – und nun komme ich noch auf das vor mir liegende Buch – sehr gefragt. Was ich hier habe, ist nämlich nicht die in Berlin erschienene Originalausgabe von 1788 für die Allegorischen Personen (diese enthielt noch speziell erstellte Kupfer), ist nicht die (ebenfalls in Berlin erschienene) Originalausgabe der kurzgefaſsten Mythologie (Originalrechtschreibung des, wie das ganze Buch, in Antiqua gesetzten Titels!). Vor mir liegt ein Nachdruck von1794, der in der damaligen Hauptstadt der Nachdrucker, Wien, erschienen ist, bei einem gewissen Franz Haas. Das Titelblatt ist hier, wie der gesamte Nachdruck, in einer gebrochenen Schriftart verfasst. Anders als das Original weist es einen Kupferstich aus – dafür ging das Komma nach Göttern vergessen. Das Buch zeichnet sich vor allem in der ersten Hälfte durch sorgfältige Gestaltung aus. Der Schriftsatz ist sauber, es finden sich nur wenige Setzfehler. Das verwendete Papier allerdings ist ein wenig grob. Selbst Kupferstiche wurden auf separaten Blättern eingefügt, mit (wie am Ende des Buchs dem Buchbinder empfohlen) einem Seidenpapier, das das Bild trennt vom Text, damit die beiden nicht aufeinander abfärben. Allerdings enthält schon der zweite Teil der kurzgefaſsten Mythologie kaum mehr Kupferstiche, der Nachdruck der Allegorischen Personen, wie schon gesagt, gar keine mehr. Irgendwie musste der Nachdrucker wohl schauen, dass er unter dem Preis des Originals blieb, sonst wäre seine ganze Arbeit umsonst gewesen, und es scheint, als hätte er es recht spät bemerkt.
Nun waren Nachdrucke damals gang und gäbe, vor allem die Habsburger haben ihre Nachdrucker sogar sehr gefördert, immerhin blieb so das Geld im Land. Den Käufern und Käuferinnen mochte es recht gewesen sein. Viele waren sich der Problematik für die Autor:innen und Originalverleger wohl gar nicht bewusst. So auch hier: Trotz des Umstands, dass es sich um einen Nachdruck handelt, muss das Buch seinem ersten Besitzer sehr lieb gewesen sein. Es ist mit geblümtem Vorsatzpapier und Lederrücken gebunden, der Name des Autors mit goldenen Lettern eingeprägt. Auch wurden, wie schon gesagt, die Kupferstiche sorgfältig eingebunden.
Abschließend, um auf den Text Ramlers zurückzukommen: Auch wenn er zwischendurch einen Mythos allzu platt-rationalistisch erklärt, ein heutiger Neudruck – vor allem der kurzgefaſsten Mythologie – wäre durchaus brauch- und wünschbar, allerdings im Zeitalter von Google, Wikipedia und KI wohl kaum verkäuflich. Tragen wir demnach Sorge zu den antiquarischen Ausgaben, auch wenn es sich um Nachdrucke handelt.