Saint-Pol-Roux: Les Reposoires de la procession I. La Rose et les épines du chemin [Die Stationen der Prozession I: Die Rose und die Dornen auf dem Weg] et autres textes

Links und rechts zwei weiße Streifen, in der Mitte vor einem gelben Hintergrund mit roten Pünktchen eine Porträtfotografie des jungen Saint-Pol-Roux mit Schnauzer, ziemlich langen Haaren und Stehkragen. Ursprünglich wohl eine Schwarz-weiß-Fotografie ist das Bild in Rot-Gelb-Tönen gehalten. – Ausschnitt aus dem Buchcover

Social Media – jedenfalls die in Privatbesitz und deshalb gezwungen, Gewinn abzuwerfen – sind schon lange nicht mehr, was sie mal (für mich) waren: ein praktisches Mittel, um mit Befreundeten und Verwandten in Kontakt zu bleiben, die nicht gleich nebenan wohnen. Natürlich ist der Betrieb der Infrastruktur nicht gratis; ein bisschen Werbung kann ich akzeptieren. Aber heute wird man mit Werbung nachgerade erschlagen und dazu werden einem Personen in die Timeline gespült, die man nicht kennt und mit deren seltsamen Ansichten man auch nichts zu tun haben will. Der Algorithmus hat dabei natürlich im Hinterkopf, dass ich reagieren und damit einen das Interesse anderer fördernden Shitstorm lostreten soll. Das tut man aber höchstens zwei Mal, dann hat man die Nase voll vom dort herrschenden Umgangston.

Aber nicht darüber will ich heute reden sondern über eine der seltenen Ausnahmen, in der mir der Algorithmus einen Beitrag gezeigt hat, den ich tatsächlich interessant fand. Es ging natürlich um Bücher. (Wobei ich gleich sagen muss, dass ich bei weitem nicht alle diesbezüglichen Postings in den Social Media interessant finde. In den auf Werbung angewiesenen Social Media sogar die wenigsten.) Und zwar wurde eine Fotografie gezeigt von ein paar nicht schlecht aussehenden Büchern, mit dem Zusatz, dass es sich hier um eine deutsche Ausgabe der Werke eines gewissen Saint-Pol-Roux handle, der ein sehr interessanter Autor zwischen Symbolismus und Surrealismus sei, dessen Werkausgabe auf Deutsch aber leider nicht vollständig herausgegeben worden sei.

Die sofort gestartete Recherche bei Wikipedia bestätigte beide Aussagen. Weiteres Suchen erklärte dann das Schicksal der deutschen Werkausgabe: Der Verlag existiert seit längerem nicht mehr. Auch, dass Saint-Pol-Roux zu den Dichtern gehörte, die sich regelmäßig bei Alfred Vallette im Redaktionsbüro des Verlags Mercure de France trafen und so den Symbolismus als literarische Bewegung lostraten, fand ich bestätigt. (Alfred Vallette kennen wir als Mann der Schriftstellerin Rachilde, die den Verlag gemeinsam mit ihm führte – auch wenn sie meistens unterschlagen wird.)

Das war in den 1890ern. Rund dreißig Jahre später wurde Saint-Pol-Roux von André Breton wiederentdeckt, der in ihm einen der Vorläufer des Surrealismus sah und ihn auch als solchen in seinen Kreis einführte. Sein späteres Leben und sein Tod waren dann tragisch (im Alltagssinn). Zuerst überfiel ein Nazi-Soldat das Schloss, in dem er nach dem Tod seiner Frau wohnte, tötete seine Haushälterin, vergewaltigte seine Tochter und verletzte den Poeten tödlich. Später sollten die Alliierten das Schloss bombardieren – warum auch immer. Dabei wurden die von den Nazis noch übrig gelassenen Papiere Saint-Pol-Roux’ zerstört. Nur weniges davon konnte rekonstruiert werden.

In Frankreich werden die literarischen Klassiker (und zusehends auch Klassikerinnen) besser gepflegt als in Deutschland, selbst die sekundären und tertiären. So gibt es auch von Saint-Pol-Roux noch einige erschwingliche Taschenbücher im Handel. Das vorliegende vereinigt mit Les Reposoires de la procession I. La Rose et les épines du chemin eines seiner frühen Werke (Veröffentlichungsjahr: 1893) mit späteren, zum Teil (wie oben gesagt) rekonstruierten. Dem Herausgeber Jacques Goorma gelingt es dabei mit seiner Auswahl, die Entwicklung Saint-Pol-Roux’ deutlich zu machen.

Beim Haupttext (Les Reposoires de la procession I. La Rose et les épines du chemin) handelt es sich um Prosagedichte. Sein symbolistisch-poetologisches Anliegen macht der Autor dabei schon in den Mottos klar, die er dem Werk voranstellt: Zuerst steht da das berühmte Γνῶθι σεαυτόν (Gnṓthi seautón – Erkenne dich selbst) des Orakels von Delphi. Dann folgt der Satz Das Schöne ist der Glanz der Wahrheit, den Saint-Pol-Roux dem Philosophen Platon zuschreibt, der aber wohl jünger, nämlich scholastisch, ist. Hierauf Das Schöne ist die Idee des Wahren, ein Satz, den man heute im Internet meist Platon zugewiesen findet, der dort aber so nicht existiert. Saint-Pol-Roux setzt als Urheber Plotin hinzu, steht damit aber offenbar ziemlich alleine. Das letzte Motto stammt aus Goethes zweitem Faust: Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit, // Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; // Von ihnen sprechen ist Verlegenheit. // Die Mütter sind es! Vor allem dieses letzte Zitat zeigt uns den Symbolismus, wie ihn Saint-Pol-Roux verstand: ein Sprechen über etwas Unaussprechliches. Anders gesagt: Der Symbolist Saint-Pol-Roux ist in seinen Prosagedichten vor allem ein Mystiker. In gewissem Sinn sogar ein christlicher (katholischer?) Mystiker, denn viele seiner Gedichte handeln in irgendeiner Form von Jesus. Durch die geschickte Auswahl an Texten können wir aber dann mitverfolgen, wie die Figur ‚Jesus‘ für den Autor mehr und mehr an Gewicht verliert und an seine Stelle ‚Gott‘ tritt. Weniger ein christlicher Gott nunmehr, eher ein pantheistischer. Im Gegensatz zu Spinoza, bei dem Gott und Natur identisch sind, betrachtet Saint-Pol-Roux aber das Sein als eine Art Emanation des unnennbaren Gottes – als dessen Symbol eben. Womit wir Plotin Einfluss auf Saint-Pol-Roux‘ Denken festgemacht haben und auch verstehen, warum sich der Dichter so sehr für die Metaphysik einsetzt.

Literarisch führt ihn diese Entwicklung des Gottesbildes hin zu reinen Prosatexten (die aber auch nur Entwürfe sein könnten für später zu schreibende Prosagedichte). In einer kurzen Übergangsphase sind diese Aphorismen recht realistisch geschrieben, bevor er dann – ganz im Sinn Lautréamonts, aber ohne dessen Brutalität – zu immer seltsameren Kombinationen von Gegenständen übergeht, hin zu einem Surrealismus also. Durchaus faszinierend.

Dennoch stellt sich die Frage: Hat man etwas verpasst, wenn man Saint-Pol-Roux nicht kennt? Nun, offen gesagt: nein. Hat man seine Lesezeit vergeudet, wann man hineinschaut? Zumindest mit Les Reposoires de la procession I. La Rose et les épines du chemin, und zumindest, wenn man lyrisch geformte („getragene“) Sprache mag: Nein. Saint-Pol-Roux’ Gedichte erinnern entfernt an die besten Teile von Nietzsches Zarathustra, aber das mag Zufall sein, zeitbedingt. Man muss aber (bei beiden) in der Lage sein, den inhaltichen Mystizismus zu trennen von der getragenen Sprache, weil ersteres für uns Heutige wohl eher schwer verdaulich ist.


Saint-Pol-Roux: Les Reposoires de la procession I. La Rose et les épines du chemin. Édition présentée et établie par Jacques Goorma. Chronologie et notes par Alistair Whyte. Paris: Gallimard, 2012. (= Collection poésie, N° 315)

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