Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch

Links und rechts zwei weiße Streifen, in der Mitte eine in Orange-, Rot-, Blau- und Grüntönen gehaltene Straßenszene in Marrakesch. Viele Leute, Männer, Frauen, Kinder. Am Straßenrand Verkaufsbuden. Gouache von Wolfgang Werkmeister, die für das Umschlagbild verwendet wurde und aus der hier ein Ausschnitt gezeigt wird.

Canetti war über lange Jahre mein Leib- und Magenautor. Erwischt hat er mich damals, als wir für ein Seminar seinen Roman Die Blendung lesen mussten. Danach habe ich alle seine bereits erschienenen Bücher gekauft und gelesen, sowie auch alle Neuerscheinungen. Das habe ich auch noch eine Zeitlang nach seinem Tod fortgesetzt, bis ich dann den Eindruck hatte, dass der Hanser Verlag seine verstorbene Cash Cow doch ein wenig allzu sehr auspresste. Was neu auf den Markt kam, war von immer geringerer Qualität – allenfalls akzeptabel und nötig in einer Gesamtausgabe. Ich habe dann lange nichts mehr von Canetti gelesen, einerseits wohl, weil ich ein bisschen sauer auf den Verlag war, andererseits sicher auch, weil ich schon bald Angst davor hatte, mit einer Wiederholungslektüre die guten Erinnerungen an mein Leseerlebnis von damals zu zerstören.

Nun aber hat die Büchergilde Die Stimmen von Marrakesch neu herausgegeben, mit Illustrationen von Wolfgang Werkmeister. Beide hatten ja diese Stadt besucht, wenn auch nicht gleichzeitig, und waren von ihr fasziniert. Und da ich meinerseits gut illustrierte Bücher faszinierend finde, war es klar, dass ich nun doch endlich einmal Canetti wieder lesen wollte.

Zunächst ist zu sagen, dass Werkmeisters Bilder in einem gewissen Gegensatz zu Canettis Text stehen. Wo Werkmeister eine bunte und helle, arabisch-mediterrane, oft von Menschen wuselnde Welt darstellt, die eine große Fröhlichkeit und ein glückliches Leben ausstrahlt, beginnt Canetti mit düsteren Tönen. Zwar wuseln auch bei ihm die Menschen, aber schon das erste Kapitel zeigt ihn auf dem Kamelmarkt. Dort findet er nur wenige Tiere, und die, die da sind, werden auf sehr brutale Weise zum Transport in den Schlachthof bereit gemacht.

Später werden wir ihn auf dem jüdischen Friedhof von Marrakesch wiederfinden, der einen äußerst trostlosen Eindruck macht. Der Tod wird so zu einer der führenden Stimmen auch in diesem Buch – zusammen mit seinem eigenen Judentum, auf das Canetti nicht nur auf dem Friedhof sondern auch beim Besuch des Judenviertels und anderswo zurück geworfen wird.

Bei Die Stimmen von Marrakesch handelt es sich nicht um einen eigentlichen Reisebericht, obwohl dem Text ein Aufenthalt Canettis in dieser Stadt zu Grunde liegt. Der Untertitel (Aufzeichnungen nach einer Reise) deutet schon auf eine Distanz oder Diskrepanz zwischen Reisezeit und Verfassungszeit hin: 1954 nämlich war es, als Canetti auf Einladung des Filmproduzenten Aymer Maxwell ein englisches Filmteam auf eine dreiwöchige Reise nach Marrakesch begleitete; das Buch aber erschien erst 1967, und man weiß heute, dass er für die Abfassung auf bloße drei Seiten Notizen zurückgegriffen hat. Was wir vor uns haben, sind impressionistische Vignetten, die zwar eine chronologische Ordnung suggerieren, aber deren Reihenfolge im Grunde genommen keine Rolle spielt. Der Ich-Erzähler Canetti ist am Schluss der rund 140 Seiten kein anderer als er es zu Beginn war, obwohl der ständig nicht nur mit dem Tod, sondern auch mit neuem Leben konfrontiert ist (er besucht ein frisch verheiratetes jüdisches Paar, nachdem er sich gegenüber ihrem Bruder als Jude zu erkennen gegeben hat), mit seinem eigenen, nur oberflächlich vorhandenen Judentum (er könnte, anders als die Juden von Marrakesch, kein Kaddisch auswendig hersagen – und es ist kein Zufall, dass Canetti ausgerechnet jenes Gebet nennt, das auch am Lager eines Toten gesprochen wird), das ihn dennoch mehr geprägt hat, als er sich selber gegenüber zugeben will, seinem Status als weißer Fremder, der sich mit einer Kultur konfrontiert sieht, die zu verstehen er sich letztlich bewusst weigert (er will kein Arabisch lernen).

Dies alles vermittelt den Impressionen Canettis eine große literarische Dichte, ist aber natürlich nicht unproblematisch. Einerseits für den Ich-Erzähler selber, der nicht der ist, für den er sich ausgibt. Zwar sein Judentum gibt er gegenüber einem Glaubensgenossen zu. Aber selbst dann posiert er, der Einfachheit halber, wie er sagt, als Engländer – seine komplizierte Herkunft verbergend. Auch gibt er sich als Psychiater aus, vielleicht, weil er damit seinem Durst nach Beobachtungen gegen außen einen Deckmantel geben möchte.

Das sind die offensichtlichen und wohl auch Canetti bewussten Implikationen des Textes. Daneben finden wir auch andere, die heute, im 21. Jahrhundert, stärker auffallen als in den 1960ern. Das Lektorat der Büchergilde hat offenbar etwas davon gespürt, wenn es im Impressum einrücken lasst, dass der Text Begriffe enthalte, die heute als diskriminierend angesehen und deshalb nicht mehr benutzt werden, zur Entstehungszeit (1967) jedoch wertfrei verwendet wurden. Doch damit kratzt die Büchergilde nur an der Oberfläche. Ich kann mich an eine einzige Stelle erinnern, wo das ach so schreckliche N-Wort verwendet wurde (aber das will nichts heißen) und auch sonst kaum an diskriminierende Begriffe. Die Problematik des Textes fürs 21. Jahrhundert liegt viel tiefer. Viel entlarvender nämlich – wenn auch ebenfalls aus der Entstehungszeit erklärbar – sind zwei andere Phänomene, die vielleicht halt weniger ins Auge springen. Das eine, weil es tatsächlich einfach fehlt – nämlich ein Bewusstsein für die privilegierte Stellung, die der weiße Mann vor dem Hintergrund des Kolonialismus in Marrakesch für sich in Anspruch nahm. Wenn Canetti von einem Attentat auf die im Namen Frankreichs regierenden Persönlichkeiten spricht, klingt er wie ein Nachrichtensprecher, der bewusst neutral zu wirken sucht. Auch sonst profitiert er natürlich von der priviliegierten Stellung des (weißen) Touristen in einem Land, das (auch) von Fremden lebt. Das andere problematische Phänomen hängt ebenfalls mit dem weißen Mann zusammen, ist für mein Empfinden aber offensichtlicher im Text und wirkt heute ebenso seltsam oder stoßend wie der kolonialistische Hintergrund von Canettis Besuch in Marrakesch – das ist der Blick, den der Ich-Erzähler Canetti immer wieder auf (einheimische!) Frauen wirft, sie unterschwellig sexualisierend und (mindestens in Gedanken) von ihnen Besitz ergreifend. Dass er dennoch das Buch seiner vor kurzem erst verstorbenen ersten Frau Veza widmete, wirkt heute dann einigermaßen seltsam.

Bin ich nach dieser Wiederholungslektüre nun ernüchtert? Ein bisschen, vielleicht. Aber natürlich dürfen wir für diese zeitgebunden und unter der Oberfläche einfacher Wortverwendungen liegenden Anschauungen den Autor Canetti nicht gleich verteufeln. Die einzelnen Vignetten sind nach wie vor sehr eindrücklich, wie ich finde. Ich werde mich wohl doch noch einmal an eine Lektüre weiterer Werke von ihm wagen.

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