Die Horen. Jahrgang 1795. Zweites Stück

Kein Zweifel, es ist so, wie orzifar in der Leserunde drüben im Forum festgehalten hat: Wir müssen uns mit der Lektüre der Horen keineswegs beeilen. Die Qualität der Beiträge nimmt sehr rasch ab; künftige Stücke werden wir sicher schneller gelesen haben als die ersten paar. Dem Leser des 21. Jahrhunderts, als rückwärts gewandtem Propheten, will es scheinen, dass schon das Zweite Stück nicht mehr ans Erste heranreicht…

Dennoch, pünktlich einen Monat nach denen zum Ersten, hier ein paar Gedanken zum Zweiten Stück. Es beginnt mit den

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter

Nach dem ersten, inhaltlich wie stilistisch nicht gerade anregenden Teil, wird es nun besser. Die trübe Stimmung, in der der Streit aus dem ersten Teil die fiktive Reisegesellschaft hinterlassen hat, wird nun wirklich mit Geschichten-Erzählen verdrängt. Noch immer machen die Protagonisten auf mich eher den Eindruck, auf einer Lustreise denn auf der Flucht zu sein; aber das mag an Goethes stets kühler und distanzierter Erzählweise liegen. Die erzählten Geschichten drehen sich um Ereignisse, die übernatürlichen Ursprungs sind oder sein könnten. Am interessantesten daran ist für mich die Diskussion unter den Reisenden nach Beendigung der ersten Erzählung:

Als der Erzähler einen Augenblick inne hielt, fing die Gesellschaft an, ihre Gedanken und Zweifel über diese Geschichte zu äussern, ob sie wahr sey ob sie auch wahr seyn könne?

Der Alte behauptete, sie müsse wahr seyn, wenn sie interessant seyn solle: denn für eine erfundene Geschichte habe sie wenig Verdienst.

Goethe riskiert viel mit dieser Bemerkung, denn im Grunde genommen enthält sie das Todesurteil über seine erste Erzählung. Nur die Einbettung in den Rahmen macht, dass sie Bestand haben kann. Nach einer weiteren Geschichte erleben die Reisenden dann auch in der Realität (ihrer Realität selbstverständlich, d.i. in der Rahmenerzählung) eine unheimliche Begebenheit, indem die Platte eines Schreibtisches mit lautem Knall zerspringt. Es stellt sich heraus, dass dieser Schreibtisch einen Zwilling hatte, aus demselben Holz geschnitzt, der im Schloss einer Tante stand. Dieses Schloss (und damit der Zwillings-Schreibtisch) wurde von den revolutionären Horden gerade zu dem Zeitpunkt geplündert und niedergebrannt, als der Schreibtisch auch im Schloss der Reisenden sprang. Diese Art von Erklärung ist typisch für Goethes Gespenstergeschichten. Sie bringt halbwegs ein Stück Aufklärung, aber nur halbwegs, weil die Aufklärung nicht die vorgegebene Rückführung auf Fakten ist, sondern eine auf eine weitere irrationale Relation. (Auch Goethes Beschäftigung mit der Naturwissenschaft krankt ja im Grunde genommen am selben Defekt – Goethes naturwissenschaftliche Entdeckungen, z.B. die Metamorphose der Pflanzen, sind fast zufällige Abfallprodukte einer von ihm postulierten und gesuchten irrationalen Relation, z.B. der Urpflanze. Doch dies nur nebenbei.)

Auch die letzte Erzählung in dieser Fortsetzung spricht wieder von einem irrationalen Element (Goethe nennt es “Talisman”), das nicht nur in der Binnen-, sondern auch in der Rahmenerzählung eine Rolle spielen soll. Nicht ungeschickt folgt hier aber des Herausgebers “Fortzsetzung folgt”.

Ideen zu einer künftigen Geschichte der Kunst

Selbst wenn wir mittlerweile den Schlüssel nicht hätten: Der Kunstgeschichtler und Kunstexperte im Team der Weimarer Klassik war Johann Heinrich Meyer. Der “Kunschtmeyer” (so genannt ob seines schweren und offenbar nie abgelegten Schweizer Akzents) liefert hier einen kurzen Abriss der antiken griechischen Kunst. Das Ganze will mir mehr oder weniger vorkommen wie ein Aufguss aus Winckelmann’scher edler Einfalt und stiller Grösse.

Im Übrigen handelt sich um einen typischen Artikel einer Zeitschrift mit gehobenem Anspruch, wie wir ihn auch heute noch in den entsprechenden Blättern finden können. Kompilatorisch-pädagogisch angelegt, erfüllt er seinen Zweck perfekt: den, dem bildungshungrigen Leser ein paar Brosamen hinzustrecken. Den Beschreibungen zu folgen, ist allerdings fast unmöglich, ohne die gemeinten Skulpturen vor Augen zu haben. Es fällt dem Leser des 21. Jahrhunderts schwer, sich in die damalige Situation zu versetzen, wo Fotografien noch gar nicht existierten, und auch Kupferstiche als Illustration teure Mangelware vorstellten. So ist man geneigt, diese künftige Geschichte der Kunst, die so nie geschrieben wurde, durchzuwinken.

Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen.
(Fortsetzung der im vorigen Stück angefangenen Briefe.)

Kann die Kunst wirklich den Menschen erziehen oder ist sie nur Produkt der Dekadenz? Dieser Frage geht Schiller nun in der Fortsetzung seiner ästhetischen Briefe als erstes nach. Er macht es sich tatsächlich nicht einfach, denn die historischen Fakten, die der Professor für Geschichte anführt, sprechen gegen ihn: Spartaner und Athener waren halbe Barbaren, als ihr Staatswesen in Blüte stand, im Untergang begriffen, als die grossen Dramatiker und Bildhauer wirkten. Dasselbe stellt Schiller fürs Italien der Renaissance fest. Schiller behilft sich, indem er im 10. Brief eine übergeordnete Instanz postuliert, den reinen Begriff der Menschheit. Der besteht aus Person (das ewig bleibende ICH) und Zustand (die Folge seiner Vorstellungen). Schillers Ästhetik weitet sich aus zu einer epistemologischen Abhandlung im Sinne des Idealismus. Schiller wandelt in den Spuren Kants und vor allem auch Fichtes. Verknüpft werden bei Schiller Ich und Welt durch zwei sog. Triebe: den Sachtrieb, der das Ich zur Sache treibt, und den Formtrieb, der die Sache in die dem Ich eigentümliche Form treibt. Da diese Triebe einander entgegengesetzt und nicht vereinbar sind, steht Schiller nun vor einem Problem. Die dialektische Aufhebung der beiden einander entgegengesetzten Triebe findet Schiller in einem sog. Spieltrieb – der soll zum Schönen als der Vereinigung von Ich und Objekt führen.

Weit, weit entfernt ist Schiller nun von jeder real durchführbaren Erziehung, wenn er hier abbricht mit einem “Fortsetzung folgt”. Auch seine geschichtlichen Erkenntnisse hat er weit hinter sich gelassen, sie quasi für obsolet erklärt. Man wartet also gespannt aufs dritte Stück

Zweyte Epistel

Nochmals Goethe. War die Erste Epistel noch satirisches Gesellenstück, das im Dialog mit Schiller dessen hochgespannten Idealismus ein wenig auf die Erde zurückzubringen versuchte, so hinterlässt die Zweyte Epistel den Leser recht ratlos.

Das lyrische Ich will dem Scherz (der Ersten Epistel?) entsagen und liefert – ja, was liefert es? Ein Bild der Frau, Dienstmagd, die in Haus und Garten tätig ist und nach keinerlei Lektüre verlangt. Ironie? Oder Goethes bitterer Ernst? Ich weiss es nicht und entlasse hiermit diese Epistel, der auch eine Fortsetzung folgen sollte, was aber – zum Glück! – nie geschehen ist.

Ueber den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur

Auch Wilhelm von Humboldt betätigt sich als Dialektiker. Zeugung – sowohl kreatürliche wie die geistige Erzeugung eines Kunstwerks – besteht aus Geben und Nehmen, Spenden und Empfangen. Allerdings ist es keineswegs so, dass nach Humboldt der männliche Part nur gibt; er muss, um geben zu können, immer auch empfangen. Ich würde nicht gerade sagen, dass Wilhelm von Humboldt hier für die Emanzipation der Frau schreibt, aber als unmittelbar anschliessender Kontrast zur Zweyten Epistel haben wir schon fast ein Manifest der Gleichberechtigung der Geschlechter vor uns. Ausserdem jubelt Humboldt dem sonst in punctio aestheticis ein Alleinvertretungsrecht beanspruchenden Herausgeber Schiller noch eine Aesthetica in nuce unter, die an Verständlichkeit die des Schwaben bei weitem übertrifft, obwohl sie in die genau gleiche Richtung zielt wie jene.

Finis. Schiller ist es für sein Zweites Stück gelungen, einen besseren Autorenmix hinzukriegen. Dass an Stelle des grossen Stars Fichte nun schon der “Kunschtmeyer” herhalten muss, zeigt allerdings, dass Schiller von Beginn weg mit der Qualität der Beiträge und der Beiträger seine Mühe bekundete.

Wir lesen weiter.

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