Die Horen. Jahrgang 1795. Erstes Stück

Kann man eine Zeitschrift 218 Jahre nach ihrem Erscheinen noch so lesen, wie sie damals gelesen wurde? Wenn es eine für die literarische Entwicklung wegweisende Publikation war? So lesen, dass man in monatlichen Abschnitten liest und denkt, d.h., die Artikel auch ein bisschen aufeinander bezieht? Versucht, zu verdrängen, wie es weitergeht – mit der Geschichte, mit dem Artikel, mit der Zeitschrift? Insofern ist die Leserunde in unserm Forum für mich auch eine Art Selbstversuch. Zu sehr sind wir es heute gewohnt, Die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten in einem Zug durchzulesen, oder die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Zu sehr lesen wir entweder Schiller oder Goethe, zu wenig beachten wir, dass z.B. Goethes Unterhaltungen und Schillers Briefe bewusst gemeinsam publiziert wurden, bewusst nebeneinander und durcheinander gestellt wurden, so, dass der eine Text dem andern zu antworten scheint. Zugegeben: Manchmal lässt man sich auch dazu verlocken, eine Antwort zu finden, wo keine intendiert war.

Wenn ich nun hier zum ersten Stück des ersten Jahrgangs der Zeitschrift Die Horen schreibe, bin ich mir auch dessen bewusst, dass meine Meinung so provisorisch ist, wie eigentlich selten auf diesen Seiten. Denn eine Leserunde vermag Ansichten zu revidieren, den Blick auf den Text zu schärfen.

Die Horen waren (einmal mehr!) ein äusserst ambitiöses Projekt Friedrich Schillers. Schiller versuchte sein Leben lang hehres Denken mit finanziellen Resultaten zu koppeln. Es sollte ihm nie gelingen – weder in der Theorie noch in der Praxis.

Der Inhalt des ersten Stücks:

Die Horen eine Monatsschrift, von einer Gesellschaft verfaßt und herausgegeben von Schiller

Anstatt eines Vorworts. Schiller schildert die Ziele seiner neuen Zeitschrift. Er will nicht mehr und nicht weniger als eine Neuordnung Deutschlands vermittels der Kunst. Eigentlich politische Beiträge sollen verpönt sein. (Was angesichts der Zensur in den verschiedenen deutschen Staaten sicher keine schlechte Idee war, aber auch angesichts der doch divergierenden Meinungen der als Beiträger Vorgesehenen.) Dann folgt eine Liste der Personen, die sich als Beiträger zur Verfügung gestellt haben. Die Liste liest sich ein wenig wie ein Who-is-who der damaligen deutschen Literatur und Philosophie. Nur die (Berliner) Aufklärung fehlt – und Wieland. Also auch eine Parteischrift des sich in vielem nun von der Aufklärung abwendenden Deutschen Idealismus. Nicht mehr Kant, sondern Fichte und Schiller. Wohl auch um die Geschlossenheit dieser Partei zu betonen, will Schiller darauf verzichten, den Beiträgen auch die Namen der Autoren hinzuzufügen.

Dann die eigentlichen Horen:

Erste Epistel

Goethe, wie wir heute wissen. Im Titel sicher an Horaz erinnernd. Aufgefordert, über das Schreiben zu schreiben, antwortet Goethe mit einer Parabel. Ein Bettler in Venedig erzählt das „Mährchen“ von Utopia nach. Allerdings verwandelt sich bei ihm Utopia ins Schlaraffenland, wo er, der arme Bettler, umsonst gespeist und getränkt wurde, wo jeder Bürger, der geachtet werden will, der Arbeit abzuschwören hat. Die Venezianer hören das mit Vergnügen und gehen wieder auseinander in ihren täglichen Geschäften. Goethe konterkariert damit Schiller, der gerade noch die Kunst, die Literatur, als Vehikel der gesellschaftlichen Veränderung propagiert hat. Zugleich dämpft er eventuelle Ängste, dass sich Die Horen zum Organ einer wie auch immer gearteten Revolution entwickle, da der Pöbel letzten Endes zwar fasziniert zuhört, dann aber wieder vom Thema ablässt. Last but not least wiederum distanziert sich Goethe von diesem Pöbel, der nur konsumiert und nicht denken will.

Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen

Das Duett Schiller-Goethe wird fortgesetzt mit einer programmatischen Schrift Schillers.

Schiller legt gleich zu Beginn in einer Fussnote beträchtlichen Wert darauf, dass diese Briefe wirklich als Briefe versandt wurden an irgendein regierendes Haus in Deutschland. Keine reine Theorie ist also beabsichtigt, Schiller sucht den praktischen Einfluss.

Obwohl bekennend von Kant her kommend und gleich in der Vignette Rousseau zitierend, will Schiller doch recht wenig von den beiden übernehmen. Auch Schiller appelliert zwar an den Verstand – nur, um dann zu postulieren, dass der Weg über die Ästhetik, die Lehre vom Schönen, zu gehen habe. Und auch Rousseaus ‚Contrat social‘ wird im dritten Brief ausgehebelt, wo Schiller feststellt, dass der Mensch zu sich kommt „aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her, und findet sich – in dem Staate“. Der Staat als von aussen aufgezwungen also, keine freiwillige Übereinkunft.

Dann kommen die alten Griechen ins Spiel, als Modellfall des ästhetisch gebildeten Menschen. Der Professor für Geschichte Schiller übernimmt da völlig unkritisch ein Bild der Antike, wie es gerade von Winckelmann entwickelt worden war. Dieses bewusste Setzen der antiken Klassik als Bezugs- und Angelpunkt hat der sich vor unsern Augen entwickelnden Strömung denn auch den Namen der Deutschen (oder Weimarer) Klassik verdient. Winckelmann, Schiller und Goethe verkennen und verklären die griechische Antike völlig. Aber dieses verklärte Ideal wurde extrem wirkungsmächtig.

Im übrigen laviert Schiller zwischen einer Verurteilung und einer Apologie der Französischen Revolution. Vieles an ihrer Fehlentwicklung hält er für unter den gegebenen Umständen unvermeidbar. Um so dringender ist für ihn das Postulat, dass „der Charakter der Zeit“ sich „von seiner tiefen Entwürdigung erst aufrichten, dort der blinden Gewalt der Natur entziehen, hier zu ihrer Einfalt, Wahrheit und Würde zurückkehren“ müsse. Dass er sich ‚die Natur‘ so zurechtbiegt, wie er sie gerade braucht, sieht Schiller dabei nicht. Da Wahrheit und Schönheit für den Schwaben parallel gehen, ist es dann auch die Kunst, ist es der Künstler, die sich als erstes zum gewünschten Standpunkt durchringen können.

Soweit die ersten neun Briefe über die ästhetische Erziehung.

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter

Und weiter im Duett – jetzt wieder Goethes Stimme. Während sich Schiller irgendwie um eine halbwegs positive Haltung zum revolutionären Geschehen seiner Zeit bemühte, halbwegs objektiv zu sein versuchte, schmettert Goethe das nun alles ab. Für ihn (bzw. den Erzähler der Unterhaltungen) sind die Revolution und die folgenden Ereignisse „jene unglücklichen Tage“, die „für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten“. Nicht auf die Griechen, sondern auf den Humanisten Boccaccio zurückgreifend, gestaltet Goethe eine eigene Novellensammlung. Auch in seiner, Goethes, Rahmenhandlung flieht ein Gruppe von Personen – nicht vor der Pest, sondern vor dem Einfall des französischen Revolutionsheeres in Mainz. Es ist sicher kein Zufall, dass Goethe Adlige ins Zentrum stellt, kein Zufall, dass er Junge und Alte mischt.

Im übrigen steht im ersten Teil der Horen nicht mehr als die Exposition – erzählt im recht umständlichen Kanzleideutsch, das Goethes Prosastil schon bald nach seiner Aufnahme in die Exekutive Weimars überwuchern sollte. Keine Lektüre, die Lust macht auf mehr.

Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit

Die Coda stammt dann von Fichte. Ein Schnipselchen von seiner Wissenschaftslehre, ein kleines bisschen Abfall aus seiner philosophischen Küche. „Niemand will irren, und jeder Irrende hält seinen Irrthum für Wahrheit.“ – Aus diesem Satz (dessen empirische Wahrheit man ja noch zugestehen könnte) entwickelt Fichte die Theorie eines eingeborenen Triebes zur Wahrheit, der nur geweckt, belebt, erhöht zu werden braucht. Indem sich der Mensch freiwillig dem Gesetz unterwirft, alles auf Wahrheit hin zu untersuchen, erreicht er gleichzeitig die absolute Freiheit.

Finis. Im ersten Stück der Horen hat Schiller seine ganz grossen Kaliber hervorgeholt. Zu jedem Text liessen sich problemlos ein paar weitere Tausend Worte verlieren, sind auch verloren worden. Aber das hier soll der Versuch sein, ein provisorisches Fazit eines Monatsheftes zu ziehen, wenn dann morgen gleich der Postbote Heft N° 2 abliefert, das ja auch gelesen sein will, bevor im März N° 3 eintrudelt …

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