Die Horen. Jahrgang 1795. Sechstes Stück

Es waren Stücke wie dieses, die den Ruhm von Schillers Zeitschrift über die Jahrhunderte getragen haben. (Vielleicht kann man sogar sagen: es war dieses Stück.) Nicht nur, dass im Sechsten Stück die beiden Grossmeister Goethe und Schiller als einzige Beiträger fungieren – sie haben auch Meisterwerke beigetragen und für einmal keine Füllsel geliefert.

Zuerst bringt das sechste Stück Goethes Elegien. Es ist eine Auswahl von 20 der eigentlich 24 ursprünglich als Erotica Romana verfassten und später unter dem Titel Römische Elegien bekannt gewordenen Liebesgedichte Goethes. Goethe hatte diese bereits lange vor Schillers Plan zu den Horen angefangen, Sie schildern die Erinnerung eines Poeten an eine (an seine!) Geliebte in Rom. Manch einer im Publikum war ob ihrer Freizügigkeit schockiert, denn hier erlaubte sich Goethe im Stil der alten Römer (Catull, Ovid oder Properz), dem fleischlichen Teil der Liebe zu huldigen – aber auf Deutsch und nicht im nur den Gelehrten zugänglichen Latein! Biografisch fixierte Interpretatoren haben sich seit beinahe einem Vierteljahrtausend die Köpfe zerbrochen, ob der lyrischen Faustina eine reelle Frau in Goethes Leben entspreche, ob allenfalls Christiane Vulpius (mit) gemeint sein könne – das alles bringt m.M.n. aber nichts. Das lyrische Ich eines Gedichts mag dem Autoren-Ich näher stehen als der Ich-Erzähler eines Romans, ganz identisch sind die beiden doch nicht, und eine Fixierung auf den autobiografischen Teil versucht doch nur, zu kaschieren, dass man dem lyrischen nicht zu folgen vermag. Dabei sind Goethe selten Zeilen gelungen, die noch musikalischer, noch geschmeidiger waren als diese. Und das will bei diesem begnadeten Lyriker einiges heissen.

Es ist viel sehnsuchtsvolle Erinnerung in diesen Elegien, aber auch viel Schalkhaftes. Selten war Goethe witziger oder komischer als in jener Elegie (der schszehnten), in der sich das lyrische Ich bei seiner Faustina erklären und entschuldigen muss, weil es das letzte Stelldichein nicht eingehalten hat. Wie es nämlich schon im Garten des Onkels der Geliebten war, drauf und dran zu dieser zu schleichen, wurde es von der Gegenwart des Oheims abgeschreckt. Faustina klärt den Geliebten und den Leser auf: Es war eine Vogelscheuche, vor der er floh – ein Popanz, den Faustina gar mithalf zu kreieren. Nun, des Onkels Wunsch wurde erfüllt, der Vogelscheu hat den losesten Vogel heute verscheuchet, der ihm Gärtchen und Nichte bestielt.

Goethe flicht auch poetologische Überlegungen in seine Elegien. Immerhin plaudern die Elegien Dinge aus, die zu verschweigen das lyrische Ich gelobt hatte. Aber, findet dieses Ich, zur höheren Ehre des Gottes Amor (und wir dürfen hier wohl setzen: der Kunst) ist dieser Wortbruch legitimiert. Die Kunst bedingt das Leben ebenso, wie das Leben die Kunst – man soll keinem Teil etwas vorenthalten.

Im Übrigen sind die Elegien schon so oft besprochen und interpretiert worden, dass ich keine Lust verspüre, zu den entsprechenden Aufsätzen und Büchern einen weiteren Aufsatz hinzuzufügen. Wer aber Lyrik auch nur ein bisschen mag, wird mit den Elegien zu einem Hochgenuss kommen.

Im zweiten Teil des Sechsten Stücks beendet Schiller dann seine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen – dies unter dem Titel Die schmelzende Schönheit. Im Grunde genommen will Schiller ja ganz einfach behaupten, dass nur ein Mittelmass zwischen reinem Affekt und reiner Vernunft zu einem anständigen Leben führt. Dafür führt er allerdings ein philosophisch-argumentatives Rösselspiel auf. Das Mittelmass definiert sich für ihn zum Schluss halt nicht aristotelisch, sondern Schiller bemüht bereits erste Ansätze einer Dialektik, wie sie dann von jenem andern Schwaben, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, in ihrer ganzen Glorie der Philosophie geschenkt wurde.

Ich muss Schiller aber zu Gute halten, dass er offenbar wenig vom edlen Wilden eines Rousseau hält. In echter aufklärerischer Manier ist für ihn der menschliche Frühzustand keineswegs ideal, sondern ein von den Einwirkungen der Aussenwelt gesteuerter, von der Aussenwelt abhängiger. Doch hier stossen wir auf die Problematik des Aufsatzes. Schiller deutet an, laviert vorsichtig, versucht nicht anzuecken. Einerseits kann dem Aufklärer die aktuelle politische Situation in Deutschland nicht gefallen. Andererseits versucht der Opportunist gerade, sich mit dieser Situation zu arrangieren, in ihr Karriere zu machen. Insofern ist die schmelzende Schönheit auch eine Form von Eskapismus, ein billige Utopie – billig, weil sie letztlich die Ästhetik, die Beschäftigung mit Kunst, zur Privatsache erklärt, die angestrebte Veredelung des Menschen eine private Veredelung ist. Vieles von der Staatsverdrossenheit der deutschen Intelligentsia des 19. Jahrhunderts hat seine Wurzeln in dieser Programmschrift der deutschen Klassik. (Man kann das auch positiv lesen, z.B. als einen frühen Aufruf zu dem, was man heute „Entschleunigung“ nennt. Der dialektische Charakter von Schillers Denken zeigt sich auch in den einander entgegengesetzten Interpretationsmöglichkeiten, die sich sowohl ausschliessen wie ergänzen.)

Jedenfalls lohnt eine Auseinandersetzung mit den Briefen immer, auch wenn Schiller in seiner Vagheit und mit seiner verschleiernden Dialektik es dem Leser nicht einfach macht.

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Ein halbes Jahr Horen. Schon jetzt waren die Beiträge oft von unterschiedlicher Qualität. Doch im Grossen und Ganzen hat sich eine einigermassen genaue Lektüre der einzelnen Stücke gelohnt. Schauen wir also einmal, was das nächste halbe Jahr so bringt…

2 Replies to “Die Horen. Jahrgang 1795. Sechstes Stück”

  1. Friedrich Gundolf über Goethes 20 Elegien:

    „Wir unterscheiden bei den zwanzig Römischen Elegien drei Gruppen, un-^ ter dem Gesichtspunkt des dichterischen Verfahrens wodurch das unmittel* bare sinnliche Motiv, der Erlebnispunkt woraus jede einzelne hervorgegan^^ gen ist, zum Weltbild, zum welthaltigen Bild erweitert wirdl Diese Eintei* lung gibt zugleich die drei Sphären welche als geistig sinnliche Schauplätze dieser Motive dienen, die drei Grade des dichterischen Geschehens in den Römischen Elegien: das Persönliche, das Römische und das Mythische. In der ersten Gruppe spricht der Dichter das Verhältnis zur Geliebten und zu Rom als Gesamtgesinnung unmittelbar aus, in I und II, welche Einleitung und Vorklang sind: das Glück zu lieben und in Rom zu Heben, in Gegen* wart der Götter und unerreichbar den Alltäglichkeiten des Nordens. Die zweite Gruppe gibt den gegenwärtigen Römischen Zustand als Lokal und die einzelnen Vorkommnisse seiner Liebschaft, Römische Stadt*, Land* und Gesellschaft und, damit verknüpft, dadurch bedingt, die verliebten Situa* tionen: V schildert das bildende, geistig*sinnliche und plastisch praktische Glück der Römischen Umarmungen — das Neben* und Ineinander von Ge* nuß und Bildung . . der Liebende der am Leib der Geliebten Plastik stu* diert oder Hexameter skandiert, der mit fühlendem Auge sieht, mit sehen* der Hand fühlt, ist zugleich ein wahres Symbol dafür wie wenig sinnliche Liebe für Goethe materielle Liebe bedeutet, wie sehr die genießende Liebe des schönen Leibes jetzt für ihn selbst ein Bildungselement, ein Faktor sei* ner geistigen Existenz ist, als Einkehr des Geistes im Leib, nicht als Flucht der Sinne ins Geistige oder Mystische. Die V. Elegie verkörpert — sie ist darum eine der sinnbildlichsten und mit Recht berühmtesten des ganzen Zyklus — den Bildungsgehalt der römisch sinnlichen Liebe, sie zieht seine Liebschaft herein in den Gesamtkreis seiner Römischen Bildung, vertieft und verklärt sie zum Sinnbild seines römischen Bildungswillens.
    In VI und IX, in XIV— XVIII kommen einzelne Situationen der Liebe, wie sie durch das Römische Lokal bedingt werden, Erwartung und Genuß, Ver* abredungen und Hindernisse, Abenteuer und Listen, Hinweg, Schleichweg, Heimweg der Verliebten zur Sprache: immer ist Rom so in der einzelnen Situation gegenwärtig, daß es entweder den Hintergrund oder denVorder«- grund bildet, und das Allgemeine jedwedes Liebesabenteuers erst durch da» Spezifische der ewigen Stadt wirklich, möglich oder bedeutend wird. Auch hier macht das Ineinander der ewigen Stadt und der vergänglichen Liebe den Charakter der Motive aus, es ist nicht bloße Ortsromantik und zufäl« liger Aufputz, wenn hier, übrigens spärlich und keusch, auf römische Per» sonen, Stätten, Bräuche angespielt wird. Falconieri und Albani, Ostia und der Flaminische Weg, dieVigne und die Popine geben Kolorit, aber sie sind nicht bloß um des Kolorits willen da, wie dergleichen nachher in der fran* zösischen Romantik, besonders bei Viktor Hugo, und seinem deutschen Nachahmer Freiligrath überhand nahm. Die Namen wachsen hier unge? zwungen aus der Anschauung hervor, die ohne Requisiten bloß durch die Auswahl und Komposition der Bilder und durch den Rhythmus so römisch ist, wie Goethes Jugendlyrik ohne geographische Requisiten mit sprachlich sinnlichen Mitteln deutsche Wald«, Hügel* und Flußlandschaft beschwört. Solche römische Anspielungen sind nicht die Ursachen, sondern die Folge von dem römischen Wesen der Elegien, und dies geht wiederum aus ihrer Konzeption und Anlage hervor: sie bedürfen keiner Requisiten, da sie nicht durch römische Requisiten, sondern durch römische Gesinnung in* spiriert sind.
    Bei weitem die umfangreichste Gruppe sind diejenigen Elegien worin eine Liebesbegebenheit entweder zum Anlaß oder zum irdischen Sinnbild für die Darstellung einer mythischen wird. III beruft die olympischen oder heroischen raschgeschlossenen Liebesbünde den irdischen zu Trost und Vor- bild: Venus und Anchises, Hero und Leander, Rhea und Mars. In IV wird das Geheimnis und der verschwiegene Kult der Liebenden angeknüpft an die klassischen Glaubensformen und der antike Olymp erweitert durch die Göttin Gelegenheit. In VII ersteigt der verzückte Dichter von dem Gipfel seines römischen Glücks aus den Olymp Jupiters selbst. In X sind es nach den Göttern die Weltheroen, mythisch große Personen, deren Schattendasein im Orkus seinen Liebesnächten als Folie und Steigerung dienen muß XI ist ein summarischer Dank an die einzelnen Olympier für ihre Gegen* wart, eine Huldigung, weil sie ihn ihres Anschauns gewürdigt: er verkörpert sie hier in der Gebärde und Haltung der klassischen Bildwerke: Zeus von Otrikoli, Juno Ludovisi, Apoll von Belvedere sind deutlich bezeichnet . . Athene, Hermes, Venus und Bacchus mögen in neapolitanischen oder vati* kanischen Sammlungen ihre Anlässe, wenn nicht ihre Ur*bilder suchen. XII leitet eine Aufforderung zum Liebeswerk durch die Kultsage von Demeters Vereinigung mit dem König der Kreter ein, und macht dadurch das lockre, jedenfalls unscheinbare Motiv zum Anlaß eines der allerreichsten, anschau* ungshaltigsten Gedichte, voll dunkler Pracht und heidnisch mystischer Be* züge. XIII behandelt denselben Gegenstand wie V, den scheinbaren Miß* klang und den wahren Einklang zwischen dem Bildungsstreben und der Liebschaft. Was V als römische Situation vorstellt, wird hier in einem my* thischen Gespräch mit Amor ausgedeutet — wie dort der Leib der Gelieb* ten zur künstlerischen Erziehung, so ruft er hier zur mythisch sinnlichen Anbetung:
    Diese Formen, wie groß! wie edel gewendet die Glieder!
    Schlief Ariadne so schön, Theseus, du konntest entfliehn?
    Diesen Lippen ein einziger Kuß! O Theseus, nun scheide!
    Blick ihr ins Auge! Sie wacht! — Ewig nun hält sie dich fest. In ähnlicher Weise wie XIII zu V, verhält sich XIX zu VI. Ein irdisch ge* seilschaftlicher Konflikt der Liebe durch Klatsch und Zwischenträgerei, wel* eher in VI nur irdisch, eben als persönliches Abenteuer zur Aussprache kommt, ist in XIX mythisch dargestellt als ein ewiger Konflikt zwischen Amor und Fama: der Grund und die Folgen dieses Konflikts werden an berühmten Beispielen aus der Lästerchronik der Olympier vergegenwärtigt. So erweitert, verklärt und vertieft Goethe nicht nur die persönlichen Mo* tive, sondern er gewinnt zugleich eine Fülle neuer, eine ganze eigne Mo* tivenwelt.
    Dadurch daß die mythischen Anspielungen ihren Sinn, oft ihr Gegenbild in den irdischen Erfahrungen der Liebenden finden, daß irdische und mythische Erfahrungen sich aufeinander beziehen, sich gegenseitig erhellen und beleben — erst dadurch wird das ganze olympische Treiben über bloßes allegorisches Arabeskenspiel, wie es die durchschnittliche Barock* und Ro* kokopoesie liebte, erhoben: es wird wirklich symbolisch. Amor, Venus, Zeus, Demeter und die ganze vielmißbrauchte Götterschar mit ihrem mythisehen Zubehör sind infolgedessen, wenn auch eingeführt von einem Ungläubigen, dennoch mehr als bloß verkleidete Begriffe, als Bildungsmaskenprunk, es sind Steigerungen und Distanzierungen der eignen Erlebnisse…“ ( Gundolf, Friedrich: Goethe. Berlin, Bond 1920)

  2. Der geheime Geheimrat: Klassisch freie Liebe in Goethes „Haupstadt der Welt“ ROMA=AMOR
    Damals ein Skandal, heute eher der immer noch sehr lesenswerte erotische, kapitolinische Höhenflug eines Dichtergenies !

    „Dichter! Wohin versteigest du dich?« – Vergib mir: der hohe
    Kapitolinische Berg ist dir ein zweiter Olymp.
    Dulde mich, Jupiter, hier, und Hermes führe mich später
    Cestius Mal vorbei, leise zum Orkus hinab…“

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