Keine Bezeichnung einer philosophischen Richtung wurde (und wird) missbräuchlicher verwendet als jene des Epikureismus. Als Inbegriff der Sinnesfreuden, Ausschweifungen und orgiastischen Vergnügungen lebt dieser Name fort und noch heute bezeichnen sich Hedonisten gerne selbst als „Schweinchen aus dem Garten Epikurs“. Wüssten sie um die beinahe asketischen Grundzüge der Schule – sie würden mehr Vorsicht in ihrer Wortwahl walten lassen. Verantwortlich für die Begriffsverwirrung ist – wie so häufig – die Konkurrenz: Zum einen die Stoiker (deren Doktrin, von der deterministischen Ausrichtung einmal abgesehen, jener der Epikureer in vielen Belangen ähnelt), zum anderen das Christentum, das die materialistische, jedem göttlichen Einfluss widersprechende Grundausrichtung verurteilte, sich aber mit den dieser Haltung zugrunde liegenden Gedanken nicht auseinandersetzte, sondern den Lustbegriff – falsch – instrumentalisierte, um die Epikureer eines oberflächlichen Hedonismus anzuklagen.
Es ist dieser Begriff der Lust, dessen genauere Definition alle vermeintlichen Epikureer verstören müsste: Lust als all jenes, das keine Unlust einschließt, Lust als Ataraxie, Selbstgenügsamkeit, die nichts begehrt, weil für das Lebensnotwendige schon gesorgt ist. Einzig diese notwendigen Begierden müssen erfüllt werden (Speise, Obdach, Kleidung), selbst auf die von den notwendigen unterschiedenen „natürlichen“ Begierden (etwa die Sexualität) kann leicht Verzicht geleistet werden – und umso mehr auf die „leeren“ Begierden, welche den Menschen einzig beunruhigen, umtreiben und jene zu erreichende Seelenruhe des wahren Epikureers verhindern.
Wichtig nun ist, dass nur jene Dinge begehrt werden, die leicht zugängig und damit leicht erreichbar sind. Die erwähnten grundlegenden Bedürfnisse fallen in genau dieses Schema: Einfache Nahrung, eine Hütte, Kleidung – all diese Dinge sind in der mediterranen Welt des Hellenismus wenn auch nicht im Überfluss, so doch in ausreichendem Maße vorhanden. Alles, was darüber hinaus geht, kann, darf, soll in Anspruch genommen werden, darf aber niemals eine Wichtigkeit gewinnen, die die Ataraxie in irgendeiner Weise stört. So kann man an einem Festmahl teilnehmen, soll sich aber zum einen mäßigen (ansonsten wäre es am Tag danach mit der Seelenruhe nicht weit her), darf zum anderen dem Genossenen weder nachtrauern noch es für die Zukunft ersehnen. Von solchen (Luxus-)Begierden sich abhängig zu machen wäre eines wahren Epikureers unwürdig – und nicht nur das: Es widerspräche der Grunddoktrin, dass man für das Glück einzig des unumgänglich Notwendigen bedürfe. Und genau dieses kann leicht erreicht werden.
Ein anderes Hindernis für das Erreichen der Seelenruhe sind metaphyisische Ängste. Hier – wie auch bezüglich der Erreichbarkeit und der Kategorisierung der Lüste – setzt Epikur auf die Vernunft. Die Götter, welche explizit als evident betrachtet werden (obschon nicht völlig klar wird, wofür Epikur die Götter in seinem Konzept noch braucht, sind sie doch weder für die Erschaffung des Kosmos noch für Glück oder Unglück der Menschen zuständig, ein solches Sich Kümmern wäre der göttlichen Natur völlig zuwider, die bloß irgendwo abgeschieden in reinster Ataraxie existiert und so bestenfalls für den Menschen als Vorbild dienen kann), sie sind – wie erwähnt – in keinerlei Verbindung mit dieser irdischen Welt zu bringen, die Welt gehorcht dem Zufall, ein „telos“ – in welcher Form auch immer – ist ein anthropozentrische Vorurteil. Der Zufall kommt in der an Demokrit und Leukipp angelehnten Naturphilosophie durch geringfügige, nicht vorhersehbare Abweichungen der Atombahnen in die Welt (hier manifestiert sich ein wichtiger Unterschied zu den Stoikern), dadurch aber wird der Mensch als Individuum für sein Glück verantwortlich, er ist frei, frei auf die „leeren“ Begierden Verzicht zu leisten und so ein zufriedenes Leben führen zu können.
Mit der Absenz von göttlichen Mächten in dieser Welt sind auch Konzepte wie Belohnung oder Strafe (etwa nach dem Tode) obsolet. Da alles Gute oder alles Übel in der Empfindung liegt, der Tod aber Empfindungslosigkeit ist, geht uns der Tod nichts an, wie es in dem berühmten Brief an Menoikeus heißt. „Denn wenn wir sind, ist der Tod nicht – und wenn der Tod ist, sind wir nicht.“
Auch in seiner Naturphilosophie nimmt Epikur einen streng pragmatischen Standpunkt ein, der an utilitaristische Konzeptionen erinnert: Naturphilosophie, Naturwissenschaft sind nur insofern von Belang, als sie zu unserer Seelenruhe beitragen, wobei es für die entsprechenden Theorie ohne Bedeutung ist, ob sie denn in einem höheren Sinne der Wahrheit entspricht. Entscheidend ist nicht diese Wahrheit, sondern vielmehr die potentielle Erklärbarkeit von Naturvorgängen. Dadurch verschwindet jene irrationale Furcht vor den Göttern, dem Mystischen, möglichen Strafen. Epikur erwähnt in diesem Zusammenhang auch nicht jene geistigen Freuden, die derjenige empfindet, der sich einer solchen Forschung hingibt, da für ihn diese Freuden Schimäre sind: Entscheidend sind einzig die Empfindungen, besser: Die Vermeidung übler Empfindungen, der Unlust, des Mangels.
Durch diese sehr pragmatische Naturbetrachtung entgeht Epikur auch den Schwierigkeiten des typischen, strengen Sensualisten: Denn wer nur die Sinne als Erkenntnisgrundlage anerkennt, muss ihre Täuschungen plausibel machen oder aber sie für unzuverlässig erklären. Zum einen nun ist diese Unzuverlässigkeit im Sinne der epikureischen Glücksphilosophie belanglos (da er die Empfindung, nicht die Wahrheit als grundlegend ansieht), zum anderen meint Epikur dem Problem dadurch beizukommen, dass er auf die Passivität der Sinne verweist. Diese würden nur und ausschließlich rezipieren und von sich aus nichts hinzufügen. Selbst wenn dem so sein sollte, so verwechselt Epikur hier die Unverfälschtheit des Eindrucks mit Wahrheit (wer nicht bewusst manipuliert muss noch lange nicht die Wahrheit erkennen).
Epikur ist der erste Verkünder eines strengen Individualismus (und insofern äußerst aktuell): Nicht das Gesamte, nicht die Erkenntnis an sich sind Werte, sondern einzig die Empfindung, der Zustand des Individuums. Dass diese Form der Philosophie auf die relativ unruhigen Zeiten des Hellenismus zurückgeführt werden kann (wie etwa von Russel behauptet) scheint fragwürdig: Denn von der – weitgehend auf Athen beschränkten – kurzen perikleischen Regierung abgesehen – stellt sich die Frage, ob denn die Zeit des peloponesischen Krieges (während der Platon aufgewachsen ist) oder auch die Nachfolgezeit des beginnenden 4. Jahrhunderts sehr viel mehr an Sicherheit geboten haben. Es sind hier möglicherweise allgemeine, sich immer wieder wiederholende Prozesse im Gange: Ein Wechsel von theoretischer Vernunft (sophia) zu einer praktischen Vernunft (phronesis), die dem Ungenügen des Einzelnen an den bisherigen Entwürfen Ausdruck verleiht. Mit Staatsentwürfen a la Platon ist der Fokus auf Außenwirkung gesetzt, mit der zunehmenden Enttäuschung über derartige Aktivitäten stellt sich automatisch die Frage, ob denn das Glück (ein zentraler Punkt jeder Philosophie) nicht auch oder gerade durch Verzicht auf derartige Aktivitäten erlangt werden kann. Der Philosoph ist hier mit dem Besitzenden vergleichbar: Wie denn zum einen ein solcher Besitz beruhigt (bzw. das Vorhandensein eines geregelten Staatswesens), so birgt das – meist mühsame, mit Entbehrungen bezahlte – Erreichen dieses Ziel auch schon die Angst vor seinem Verlust: Weshalb sich die Frage stellt, ob denn, um dieser Furcht zu entgehen, nicht ein völliger Verzicht der gangbarere Weg sei. Die individualistische Konzeption des Hellenismus ist ein Gegenentwurf, sie ist aber auch ein Gesamtentwurf: Denn Individualismus ist nicht gleich Egoismus. Epikurs Verzichtkonzept ist derart gestaltet, dass es sich nicht nur für den individuellen Einzelnen, sondern für alle Einzelnen durchführen lässt.
Die dogmatische Strenge, mit der Epikur seine Philosophie ausgestaltete, führte zu einer Erstarrung seiner Lehre. Diese Dogmatik als auch die latente Wissenschaftsfeindlichkeit, die sich in der Skepsis gegenüber der Freude am Denken an sich gründet, verhinderten sowohl eine Weiterentwicklung der prinzipiellen Thesen als auch die Entwicklung einer gelehrten Gemeinschaft, sich gegenseitig befruchtend, anfeuernd. Dies macht den Epikureismus für unsere Zeit wenig attraktiv, wenngleich der Hauptpunkt des epikureischen (= ethischen) Denkens einer ist, der jedem Menschen zu jeder Zeit sehr wohl anspricht: Ob’s denn all der Dinge bedarf, die man für lebensnotwendig hält, ob denn nicht die Dinge (die leeren Begierden) uns regieren – anstatt umgekehrt.
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