Vom antiken Orakel zur Wissenschaft

Seine / eine Zukunft gestalten, heisst immer auch: Seine Zukunft vorhersehen. Jede Planung ist der Versuch eines Vorhersehens dessen, was kommen wird. Schon früh wohl wurde in der Menschheit der Wunsch laut, diesen Versuchen eine einigermassen verlässliche Basis zu geben. Was lag da näher als den Gott oder einen Gott zu befragen? Nachdem Gott im Alten Testament sehr früh aufgehört hat, persönlich unter den Menschen zu wandeln, waren Vermittler gefragt. Ähnlich ja in der Griechischen Antike, wo die Götter ja offenbar kurz nach Homer ebenfalls aufgehört hatten, sich direkt in menschliche Belange einzumischen oder sich ihnen – unter welcher Gestalt auch immer – zu zeigen. Im Judentum waren es die alttestamentarischen Propheten, die erschienen, im antiken Griechenland wurde der Gebrauch des Orakels Usus. Propheten beantworteten aber normalerweise keine Fragen, sondern sagten ganz einfach eine – meist nicht sehr schöne – Zukunft voraus. Propheten waren deshalb auch nie beliebt, sondern wurden meist von Staats wegen als Unruhestifter verfolgt. Vom Phänomen oder Problem des ‚falschen Propheten‘ mal ganz zu schweigen. Echte und falsche Propheten von einander zu unterscheiden, war schwierig. (Ein ähnliches Problem stellte sich Jahrhunderte später der Katholischen Kirche, als die Mystik und die Mystiker überhand zu nehmen begannen. Um genuin göttliche von teuflischen Inspirationen unterscheiden zu können, wurde ein ganzes Regelwerk erstellt – Fragen, denen die Mystiker und Mystikerinnen Genüge tun mussten, um nicht auf dem Scheiterhaufen als Häretiker zu enden.)

Ein bisschen einfacher haben es da die Orakel. Einerseits hüteten sich die Priester und Priesterinnen, ihren Arbeitgeber, ihre Einnahmequelle zu kompromittieren, indem sie allzu klare Aussagen, die Zukunft betreffend, machten. Schon im alten Griechenland galten Orakel immer als dunkel, ihre Aussagen als mindestens zweideutig. Der Grund ist klar und ich zitiere einen Wissenschaftsjournalisten, Simon Schmid:

Unvorhersehbare Risiken und modelltheoretische Schwierigkeiten machen die Prognosen zu einem abenteuerlichen Business. Auch Herdentrieb und der Ruf nach Aufmerksamkeit prägen das Geschäft. «Prognostiker, die sich am Markt bewähren müssen, sind in einer zwiespältigen Lage», sagt […] Dirk Niepelt. «Einerseits haben sie einen Anreiz, nicht zu stark vom Konsens abzuweichen; andererseits wollen sie als eigenständig wahrgenommen werden.»

(Um ehrlich zu sein: Simon Schmid machte diese Aussage im Tages-Anzeiger in Zusammenhang mit den jährlich erstellten Prognosen über das Wirtschaftswachstum des Landes. In nuce ist seine Meinung, dass diese Vorhersagen scheitern müssen, weil ihre Basis auf zu vielen – unwissenschaftlichen! – Annahmen beruht. Dabei wurde schon in den antiken Sagen vor der Zweideutigkeit einer Orakel-Aussage gewarnt – das wohl bekannteste Beispiel die Geschichte von Ödipus, wo der Versuch, dem Orakel und seinen Weissagungen auszuweichen, erst recht in die Katastrophe führte.

Das war Macht des Orakels, wie ihn der Mythos darstellte und wünschte. Was aber war die Realität?

Xenophon träumte bekanntlich davon, als Söldner in persischen Diensten zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Sokrates stand diesen Wünschen eher skeptisch gegenüber, wollte aber offenbar nicht direkt davon abraten, sondern riet seinem Schüler nur, doch zuerst noch das Orakel zu Delphi zu seinen Plänen zu befragen. Doch Xenophon war ja nicht ganz auf den Kopf gefallen. Um ja keinen negativen Bescheid zu riskieren, fragte er das Orakel dann auch nicht, ob er als Söldner nach Persien fahren solle oder nicht – er fragte das Orakel nur, an welche Götter er sich zu wenden habe, um einen positiven Ausgang des Abenteuers sicher zu stellen. Die Antwort des Orakels konnte er damit so oder so verwenden, um daraus eine implizite Zustimmung der Götter zu seinen Plänen zu entnehmen.

Das war dann schon bald das Ende des antiken Orakeltums. In Europa übernahmen zunächst die Römer das Zepter, die die Zukunft aus den Innereien von Vögeln und andern Opfertieren lasen. Auch die Römer tricksten dabei natürlich, indem sie einfach so lange Vögel aufschlitzten, bis die Innereien bei einem so lagen, wie sie es wünschten.

Das frühe Christentum entnahm seine Gestaltung der Zukunft den Vorhersagen, die es in seinen Heiligen Schriften fand. Allen voran stand natürlich das Neue Testament, das viele Vorhersagen Christi, der Apostel und des geheimnisvollen Johannes der Apokalypse beinhaltete. Viele Aussagen musste immer wieder neu interpretiert werden – so ging z.B. die erste Jahrtausendwende vorbei, ohne dass irgendeine Vorhersage in Bezug auf Christi Wiederkunft sich bewahrheitet hätte. Diese Neuinterpretationen wurden zusehends esoterischer. Das gemeine Volk griff zurück auf alte und im Grunde genommen heidnische Orakel-Formen.

Humanismus und Aufklärung brachten eine weitere Verweltlichung der Vorhersage von Zukunft mit sich. Die Entwicklung einer Naturwissenschaft im modernen Sinn erlaubte es, auch die Vorhersagen zu ‚verwissenschaftlichen‘. Ein Paradebeispiel dafür sind die Vorhersagen von Sonnen- und Mondfinsternissen. Die alten Babylonier konnten das zwar auch schon, aber nur aufgrund statistischer Tricks. Jetzt aber wurde es möglich, eine Finsternis genau vorher zu sagen und sich entsprechend darauf einzurichten. Die moderne Technik brachte eine Möglichkeit zur Beherrschung der Natur – und damit zur Gestaltung der Zukunft, denn das Unwägbarste an der Zukunft war noch immer die Natur gewesen.

Nach und nach entstand auch eine neue Form der Zukunfts-Vorhersage, in Form der Literaturgattung der sog. ‚Science Fiction‘. Jules Verne und H. G. Wells stehen zwar nicht ganz am Anfang, sind aber für frühe Science Fiction typische Autoren. Wells, der Sozialist, der auch immer vor den Gefahren der technischen Entwicklung warnte, während Jules Verne die Gefahren immer als individuelle Fehler abtat und im übrigen überall ein grossartiges Abenteuer witterte. Aber Wells und Verne bildeten die Zukunft immer als Teil der Gegenwart ab. Utopie, Science Fiction, wie wir sie heute kennen, als Entwurf einer Zukunft war darin nur implizit vorhanden.

Zukunftsentwürfe finden wir interessanterweise zuerst ganz woanders. Die vielleicht erste Uchronie, also in der Zukunft angesiedelte Geschichte finden wir bei Louis-Sébastien Mercier, einem französischen Literaten, der 1740 geboren wurde und noch die Französische Revolution miterleben sollte. Er schrieb im Jahr 1771 das Werk „Das Jahr 2440: ein Traum aller Träume“, in dem ein Zeitreisender ins Jahr 2440 katapultiert wird und dort ein von allen schlechten Umständen gereinigtes Königtum in Paris findet. Das Dumme daran ist, dass Mercier nicht klar machen kann, wie diese Reinigung statt gefunden haben soll. Sie ist nun einfach da. (Im übrigen ignoriert Mercier sogar die Entwicklung des Heissluftballons, die 1771 schon im vollen Schwange war. Die Technik, z.B. eben die Fortbewegungsarten, seines Jahres 2440 entspricht noch völlig der von 1771. Man geht zu Fuss oder lässt sich in Sänften tragen.) Ein Zukunftsentwurf also, der bei der faktischen Zukunftsgestaltung absolut keinen Einfluss haben sollte. So weit literarisch/journalistische Werke überhaupt Einfluss auf politische Ereignisse nehmen können, war wohl Merciers „Tableau de Paris“ bedeutend einflussreicher. Darin beschreibt Mercier auf eigenen Erfahrungen beruhende Impressionen aus dem Leben dieser Grossstadt – und nicht immer nur die schönen Seiten. Diese journalistischen Impressionen erschienen über längere Zeit in Paris und machten ihm dort nicht nur Freunde.

Mary Shelley ist bekannt geworden durch ihren 1818 erschienen „Frankenstein“. Obwohl es darin um die künstliche Erschaffung eines Menschen geht, haben wir keinen Science-Fiction-Roman vor uns, sondern eine Charakter-Studie, näher an Faust denn an Jules Verne. Es gibt zwar von Mary Shelley einen Zukunfts-Roman, „The last Man“ (Der letzte Mensch), in dem die Entwicklung Grossbritanniens anhand der Entwicklung des Freundeskreises um Lord Byron geschildert wurde. Auch Mary Shelley sieht in ihrer Geschichte, die Ende des 21. Jahrhunderts spielen soll, keine Entwicklung der Technik vor – die Kutsche bleibt das vorherrschende Transportmittel. Der Heissluftballon wird zwar als Passagierfahrzeug eingesetzt, spielt aber offenbar nur im Schnell-Fernverkehr eine Rolle. (Wie das technisch ohne eigenen Antrieb geschehen soll, erklärt uns Frau Shelley leider nicht.)

Erst die US-Amerikaner sollten die Science Fiction systematisch in die Zukunft verlegen. Dabei stossen wir immer wieder auf ein interessantes Phänomen. Stanisław Lem, selber renommierter Science-Fiction-Autor, hat es in seinem theoretischen Werk „Phantastik und Futurologie“ festgehalten: Fast immer wird in diesen Werken die Zukunft als etwas hingestellt, das im Grunde genommen dasselbe ist wie die Gegenwart – nur grösser. Science Fiction aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts kennen Computer – aber sie sind noch im 25. Jahrhundert Röhren-betrieben und nehmen immensen Platz in Anspruch. Noch etwas früher, bei „Doc“ Smith, ist ein Computer noch ein Mensch, der mit Bleistift und Zirkel die Navigation im Weltraum berechnet. Die Lieblings-Energiequelle des frühen Asimov ist die Atomkraft, die ungeheuer miniaturisiert in jedem Gadget seiner Protagonisten steckt. (Zugegeben: Wir finden andererseits auch technische Gadgets, die in der Science Fiction vorweg genommen wurden. Die TV-Serie „Star Trek“ kennt nicht nur die Technik des Beamens, die nach allem, was ich weiss, einen derart grossen Energie-Aufwand benötigen würde, dass sie physikalisch unmöglich ist – sie kennt auch kleine Instrumente, mit denen die Crew-Mitglieder untereinander kommunizieren, und die heute auf der ganzen Welt verwendet werden.)

Die Literatur hat – wenigstens im Grossen – vom Orakel die Rolle der Vorhersage der Zukunft übernommen. Aber auch die Wissenschaft – allen vor an die schon erwähnte Futurologie – versucht, die Zukunft vorherzusehen. Meist geschieht das wohl, indem die Wissenschaft dasselbe tut, das auch die Literatur getan hat: Man nimmt den heutigen Stand der Dinge und vergrössert ihn. Das funktioniert genau so gut oder genau so schlecht wie in der Science Fiction. Es kann hinhauen, wie beim Handy. Manchmal interpoliert man zu wenig – dann hat man Autobahnen, die schon 50 Jahre nach der Planung den Verkehr nicht mehr schlucken können. Manchmal interpoliert man zu viel, dann hat man riesige Kirchen, wie z.B. bei uns, die kaum Besucher haben; Kirchen die gebaut wurden, weil die, die es zu wissen vorgaben, ein riesiges Wachstum des Quartiers vorhersagten. Aber es kam die Autobahn und schnürte das Quartier gegen Norden und Osten ab. Und es kam der rasante Mitgliederschwund der Landeskirchen, den selbst die Einwanderer aus dem Süden nicht mehr kompensieren können. Beides hat man nicht vorhergesehen.

Fazit: Eine Zukunft vorhersehen oder planbar machen können offenbar weder Orakel noch Wissenschaft. Die Phantasie der Literatur hingegen schafft es manchmal. Und manchman schafft sie es fast.

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