Mary Shelley (1797-1851) ist wohl am besten bekannt für ihren Roman Frankenstein – wenn nicht überhaupt nur für diesen. Genau gesagt heisst der Roman im Original Frankenstein or The Modern Prometheus und erschien 1818. Mit Frankenstein schuf Mary Shelley einen Mythos, der bis heute in der Trivialkultur grosse Wellen schlägt. (Auch wenn der eine oder andere wohl Frankenstein für das Monster selber hält und nicht für dessen Schöpfer.) Schon früh hat sich deshalb auch der Film, hat sich Hollywood, des Themas angenommen.
Der ahnungslose Leser des 21. Jahrhunderts allerdings wird – ähnlich vielleicht wie bei Robinson Crusoe – eine Überraschung erleben. Denn Mary Shelley erzählt keine geradlinige Geschichte, keinen Horror, wie wir ihn heute erwarten. Typisch romantisch (und typisch für die „Gothic Novel“) ist die Erzählweise. Mary Shelley verschachtelt ihre Geschichte. Die Rahmenerzählung bilden Briefe, die Robert Walton an seine Schwester schreibt. Walton hat sich mit einer Expedition aufgemacht, um eine Passage durch den Nordpol zu entdecken. In diese Tat steckt er seine ganze Energie, seinen ganzen Ehrgeiz. Sein Schiff aber bleibt im arktischen Eis stecken. Die Mannschaft sieht, wie eine riesige Person auf einem Hundeschlitten Richtung Norden eilt. Am nächsten Morgen nehmen sie einen Mann an Bord, der schwerkrank und am Ende seiner Kräfte ebenfalls auf dem Weg nach Norden war. Es ist Viktor Frankenstein, der von Walton die nächsten Tage gepflegt wird. Als er sich langsam erholt und den tödlichen Ehrgeiz in den Augen seines Retters erkennt, beginnt er, ihm seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Damit betreten wir die Binnenerzählung. Frankenstein erscheint als junger Naturwissenschafter, der nachdem er lange in den alten Alchimisten gelesen hat (es werden Agrippa, Albertus Magnus und Paracelsus genannt), deren Überholtheit erkennt. (Ja, genau: „Habe nun, ach, …“) Viktor Frankenstein schwenkt zu den modernen Naturwissenschaften. Altes und Neues kombinierend gelingt es dem ehrgeizigen jungen Wissenschafter, das Geheimnis zu entdecken, wie man Totes (wieder) lebendig macht. Er bildet einen Menschen nach und erweckt ihn zum Leben. Die Kreatur flieht. Ist diese Kreatur wirklich ein Monster, von Grund auf böse, wie Viktor Frankenstein meint? Oder ist sie nur böse geworden, weil sie ob ihrer Hässlichkeit von allen Menschen verstossen wird, wie die Kreatur selber meint? Die Autorin lässt den Leser darüber im Ungewissen und tut gut daran. Was folgt, ist eine Geschichte von Anziehung und Abstossung. Mal hat Frankenstein Mitleid mit seiner Kreatur und verspricht ihr sogar, für eine Gefährtin zu sorgen. Dann aber wieder bekommt er es mit Angst und Misstrauen zu tun und zerstört das fast fertige Werk. (Nebenbei eine interessante Frage: Hätte das Monster seine Gefährtin wirklich lieben können? Und vice versa? Oder hätten die beiden einander vielleicht auch abstossend gefunden? Mary Shelley weicht der Frage leider aus.) Aus Rache tötet nun das Monster alle Personen, die Viktor Frankenstein liebt: seinen besten Freund, seine Braut in der Hochzeitsnacht. Viktor Frankenstein macht sich auf, sein Monster zu erlegen.
Hier endet die Binnenerzählung. Frankenstein hat die Spur seines Monsters aufgenommen und bis in die Arktis verfolgt. Er stirbt aber trotz Waltons Pflege noch auf dem Schiff an Erschöpfung. Walton – von seinem Ehrgeiz geheilt – beschliesst, sein unsinniges Unternehmen abzubrechen und heimzusegeln. Unterwegs steigt Frankensteins Monster zu. Er findet seinen Schöpfer tot. Trauer und Schuldgefühle plagen ihn. Er verlässt das Schiff und verschwindet auf einer Eisscholle in der dunklen Nacht.
Es ist ein Roman, der vordergründig vor der menschlichen Hybris warnt. Es ist in gewissem Sinne ein nihilistischer Roman, indem weder für den Schöpfer noch für das Geschöpf ein erfülltes, sinnvolles Leben möglich ist. Jeder verbringt sein Leben damit, den andern zu jagen – und das, obwohl sie offenbar einander sehr mochten. Dass wir mit „Schöpfer“ und „Geschöpf“ an theologische Begriffe erinnert werden, ist wohl kein Zufall, auch wenn ich nicht denke, dass Mary Shelley einen atheistischen Roman verfassen wollte. Prometheus und Faust sind allerdings wohl auch nicht zufällige Reminiszenzen, die im Leser erweckt werden.
Alles in allem habe ich gute Erinnerungen an diesen Roman, der im Gegensatz zu den meisten seiner Gefährten aus dem Genre der „Gothic Novel“ kaum Längen aufweist – vielleicht auch, weil er weit über den üblichen Horror hinausreicht und mit Liebe und Tod zwei der ewigen Themen der Literatur aufweist.
Aus dem Buch von Erhard Oeser über „Katastrophen“ entnehme ich, dass eine von Shelleys Anregungen, den „Frankenstein“ zu schreiben, aus der Düsternis des Sommers von 1816 (den sie in Genf verbrachte) herrührte und der durch den Ausbruch des Tambora rund 10 Grad unter dem Temperaturmittel lag.
Zumindest die Tatsache, dass Shelley & Co. aufgrund des schlechten Wetters kaum die Wohung verlassen wollten oder konnten, und sich einen andern Zeitvertreib suchen mussten, der dann darin bestand, dass man Schauergeschichten ausdachte und einander vorlas, war an Frankenstein nicht unschuldig.