Johann Gottlieb Fichte: Werke VI

Mit Band VI schliesst die von Fritz Medicus 1911 veranstaltete Auswahl-Ausgabe von Fichtes Werken ab. Noch einmal steht nicht der politische Publizist im Fokus, sondern der Professor der Philosophie. Allerdings hat Fichte in den 10er Jahren des 19. Jahrhunderts selber keine philosophischen Werke mehr publiziert. Zu sehr war er mittlerweile zum Schluss gelangt, dass nur persönliches Lehren das, was er als Missverständnisse seiner Lehre empfand, verhindern könnte. Wir finden in Band VI den Text von drei Vorlesungen Fichtes, die zu dessen letzten gehören sollten: Das System der Sittenlehre (1812) / Über das Verhältnis der Logik zur Philosophie oder Transzendentale Logik (1812) / Die Staatslehre oder Über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche (1813). Alle drei Texte sind nach Fichtes Vorlesungsnotizen einerseits, nach Kollegnachschriften seiner Hörer andererseits rekonstruiert. Dabei bleibt es selbstverständlich nicht aus, dass Dunkelheiten im Text erscheinen. Teils sind Fichtes Notizen oft sehr kurz, stichwortartig; teils haben wohl auch die Hörer nicht immer alles in dem Sinn und Stil aufnehmen können, wie es Fichte geliefert hat. Dies kumuliert zu den in Fichtes Lehre sowieso vorhandenen Unklarheiten, so dass wir oft Fichte Recht geben müssen, wenn er davon ausging, dass seine Lehre nicht für die Profanen, sondern nur für die Eingeweihten, seine direkten Hörer und Jünger, sei.

Tatsächlich ist Fichte der Meinung, dass die Philosophie letztendlich in seiner Wissenschaftslehre gipfeln würde. Und dass die Menschheit eines Tages dies auch einsehen würde. Allerdings rechnete er bereits mit einem Zeitraum von mehreren hundert Jahren, bis seine Wissenschaftslehre sich durchgesetzt haben sollte. Zumindest können wir heute bestätigen, dass sich Fichtes Prophezeiung ganz oder gar nicht erfüllen wird…

Im Übrigen haben seine drei Vorlesungen nach heutigem Verständnis wenig mit den Begriffen zu tun, die sie jeweils im Titel führen. Die Sittenlehre ist keine Ethik im üblichen Sinn – Fichte entwickelt ein kompliziertes System von setzenden und sollenden Ichs. Dabei rekurriert er als Letztbegründung auf das Vorhandensein Gottes. Und auch wenn er kein orthodoxer Protestant ist: Fichtes Sittenlehre ist viel weniger Philosophie als Theologie, Fichte ein zu spät gekommener Scholastiker. Ähnliches gilt für die Transzendentale Logik, wo Fichte munter Logik, Erkenntnis- und Wissenschaftslehre durcheinander mischt. Pseudo-logische Formeln unterstützen seinen Anspruch, aufzuzeigen, dass eben auch die Logik eine metaphysisch-theologische Verankerung habe. Die Staatslehre schliesslich hat mit politischer Philosophie nur am Rande zu tun; es handelt sich hier mehr um ein Konglomerat, einen Zusammenzug der gesamten Lehre Fichtes. In der Staatslehre zeigt sich einmal mehr auch der pädagogische Furor des Philosophen – er möchte am liebsten den ganzen preussischen Staat einer Erziehung im Stil von Johann Heinrich Pestalozzi unterwerfen.

Überhaupt ist Fichtes Verhältnis bzw. sein Verhalten gegenüber seinen Vorgängern und / oder zu andern Denkern recht problematisch. Er erkennt z.B. in Descartes‘ Cogito ergo sum die logische Problematik des in Vorder- wie Nachsatzes gesetzten ‚Ich‘, die verhindert, dass diese Aussage als Begründung von Erkenntnis dienen kann – verfährt aber deswegen selber keineswegs besser oder logischer. Leibniz wird zwar das eine oder andere Mal angezogen (immer, wenn es darum geht, eine seiner Aussagen zu kritisieren), aber ob Fichte Leibniz‘ Monadologie gelesen hat, wage ich zu bezweifeln. Falls ja, hat er sich jedenfalls nicht philosophisch mit ihr auseinandergesetzt. Diese Auseinandersetzung ist im Grunde genommen nur Kant vorbehalten, den er in den Texten von Band VI allerdings nun auch zusehends kritisiert. Auch beharrt er darauf, unter Umgehung von David Hume (den er, soweit ich sehe, kaum einmal beim Namen nennt), John Locke als direkten Vorgänger Kants zu sehen.

Muss man Fichte also gelesen haben? Wenn möglich gar alle in Medicus‘ Auswahl-Ausgabe aufgeführten Werke? Ich denke, nein. Philosophisch, philosophiegeschichtlich gesehen, genügt es, die früheste Form der Wissenschaftslehre zu kennen. Dort fliesst die Erkenntnistheorie noch pur; und Kants aufklärerischer Impetus lässt sich noch gut erkennen. Sobald Fichte sich selber nicht nur nicht mehr dagegen wehrt, Idealismus zu lehren, sondern den Terminus sogar für seine Lehre in Anspruch nimmt, ist diese seine Lehre auch esoterisch geworden – mit starkem Hang zum Sektierertum. Da ist dann allenfalls noch Fichtes Geschloßner Handelsstaat als erste Spur seines Franzosenhasses und natürlich seine Reden an die deutsche Nation, wo Fichte als einer der ersten zum Widerstand gegen Napoléon aufruft. (Wie überhaupt der französische Kaiser – gerade durch den Hass, den Fichte auf ihn wirft – untrennbar mit Fichtes Denken wie mit seinem Leben verknüpft ist.) Dass Fichtes entschiedener Patriotismus über 100 Jahre später vom Nationalsozialismus annektiert und pervertiert werden sollte, liegt zwar in der Natur der Dinge, darf aber Fichte natürlich nicht angelastet werden. Ich denke nicht, dass Fichte, der sich selber als Führer und Vordenker einer neuen Bewegung sah, sich mit der nationalsozialistischen Ideologie hätte befreunden können.

Alles in allem hat mich nun die Lektüre Fichtes ein gutes halbes Jahr begleitet. Sie war nicht uninteressant; aber ich bin froh, sie nun abgeschlossen zu haben.

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