Sein Verleger verlangte von Trollope, dass er diesen Roman um rund ⅓ kürze. Ich kann den Verleger verstehen und muss ihm Recht geben. (Der Autor allerdings weigerte sich.)
Barchester Towers ist der unmittelbare Nachfolger zu The Warden und findet zwei oder drei Jahre nach den Ereignissen statt, die darin beschrieben sind. Wir finden also die meisten Protagonisten wieder. Gleich zu Beginn des Romans stirbt der alte Bischof. Die Nachfolgeregelung ist der eigentliche Auslöser der Ereignisse, die in Barchester Towers beschrieben werden. Nicht sein Sohn, der Erzdiakon, nämlich erhält, wie allgemein erwartet, die Stelle. In London hat kurz vor dem Tod des Bischofs ein Regierungswechsel statt gefunden. Die neue Regierung fühlt sich (unter anderem) verpflichtet, den Augiasstall der Church of England auszumisten. Um diesen, den (im Laufe des Romans von andern, persönlichen Konflikten überlagerten) Grundkonflikt von Barchester Towers verstehen zu können, braucht es minimale Kenntnisse der Geschichte der anglikanischen Kirche des 19. Jahrhunderts. Dort tobte zu jener Zeit der Kampf zwischen der sog. ‚High Church‘ und der sog. ‚Low Church‘. Die Vertreter der ‚High Church‘ waren konservativ, dem Adel und seinen noch bestehenden Privilegien nicht abgeneigt. Sie legten Wert auf feierliche Zelebration des Gottesdienstes – liessen ansonsten aber, salopp gesagt, den lieben Gott einen guten Mann sein. Die Vertreter der ‚Low Church‘ gehörten sozusagen dem linken Flügel der Kirche an. Am Puritanismus und am Protestantismus Calvin’scher Prägung orientiert, verlangten sie u.a. schlichte Gottesdienste und absolute Einhaltung der Sonntagsruhe. Allenfalls, dass die Kinder eine Sonntagsschule besuchen sollten. Schon sprachlich grenzte sich die ‚Low Church‘ von der ‚High Church‘ dadurch ab, dass in der ‚Low Church‘ prinzipiell vom ‚Sabbat‘ gesprochen wurde, nicht vom ‚Sonntag‘.
So kommt es, dass in der High-Church-Hochburg Barchester mit Dr. Proudie ein Bischof eingesetzt wird, der der ‚Low Church‘ angehört. Schlimmer: Er bringt mit Mr Slope einen persönlichen Kaplan mit, der schon in seiner ersten Predigt in der Kathedrale die versammelten Priester der Diözese gegen sich aufbringt.
Diesem Grundkonflikt überlagert Trollope nun weitere Konflikte.
Da ist einmal das Ringen um die Macht in der Diözese, ein Ringen, in das der Bischof (der Amtsinhaber und offizielle Träger der Macht) nur als Opfer involviert ist, indem es zwischen seinem Hauskaplan und seiner Gattin ausgetragen wird. Mr Slope entpuppt sich dabei als intriganter Lügner. In dieses Ringen wird auch Septimus Harding ein weiteres Mal verwickelt, da die Stelle des Spitalvorstehers (allerdings zu völlig anderen und bedeutend schlechteren Bedingungen) wieder zur Diskussion steht.
Ein weiterer Motivkreis dreht sich, wie könnte es anders sein, um die Liebe. Septimus Hardings jüngere Tochter, in The Warden noch unsterblich in Dr. Bold, den Arzt, verliebt, hat diesen unterdessen geheiratet, allerdings in der Zwischenzeit bereits wieder durch Tod verloren und stellt nun eine junge, nicht nur attraktive sondern auch verhältnismässig reichte Witwe mit einem jungen Sohn dar. Sehr bald konkurrieren um diese Frau drei Männer: Mr Slope, den das Geld anzieht, das ihm die Möglichkeit gäbe, unabhängig von Dr. und Mrs. Proudie existieren zu können, da sich schon bald abzeichnet, dass er den Kampf um die Macht in der Diözese verlieren wird, hat er doch den Nachteil, dass sein Einfluss auf den Bischof nur tagsüber stattfindet, abends und nachts jedoch Mrs. Proudie ihrem Gatten nach Belieben die Leviten lesen kann. Eine weiterer Aspirant auf die Hand der jungen Witwe ist der Sohn von Dr. Vesey Stanhope, einem kirchlichen Würdenträger, der die letzten 12 Jahre in Italien gelebt hat, statt sich seinen Amtspflichten zu widmen – ein Übelstand, den der neue Bischof bzw. seine Frau natürlich sofort abstellt. Vesey Stanhope ist also zurück in Barchester. Die Schilderung seiner Familie gehört zum Besten an ironisch-satirischer Personalschilderung, das ich kenne. Eine Tochter hat in Italien einen Italiener geheiratet, der von sich behauptete, der letzte aus der Familie des römischen Kaisers Nero zu sein. Das hinderte das Paar offenbar nicht daran, sich zu zerstreiten. Was genau passiert ist, enthüllt die Tochter nie. Jedenfalls kommt sie mit Kind und einem lahmen Bein zurück in die Familie. Ihre Behinderung hindert sie allerdings nicht daran, mit jedem Mann, der in ihr Blickfeld gerät (und es sind deren allein in Barchester Dutzende!) heftigst zu flirten. Der einzige Sohn Stanhope ist offiziell Bildhauer – tatsächlich aber einfach ein fauler Kerl, dessen einzige Begabung es ist, Geld auszugeben, wenn er welches kriegt. Es ist die dritte Schwester, die den Plan fasst, ihn mit der Witwe Bold zu verheiraten. Er übernimmt diese Aufgabe im Grunde genommen nur widerwillig. Der dritte im Bunde der Aspiranten ist Mr Arabin, auch ein Neuzugang im Barchester-Set. Der Erzdiakon hat ihn von der Universität Oxford geholt, wo die beiden Studienkollegen waren, und wo Arabin noch immer lehrt. Arabin ist einer der wenigen, der der Rhethorik von Mr Slope entgegen halten kann, was die Wahl des Erzdiakons erklärt, der auf der Suche nach Bundesgenossen im Kampf gegen den neuen Bischof ist.
Hier ist nun der Punkt, wo ich gestehen muss, dass ich tatsächlich gewünscht habe, Trollope hätte seinen Roman ein Weniges gekürzt. Die Art und Weise, wie die Witwe Bold völlig blind ist für Charakter und Pläne der Herren Slope und Stanhope jr., mag ja noch knapp angehen. Dass diese Blindheit im Falle von Slope führt, dass sie sich de facto mit ihrer ganzen Familie verkracht (die schon glaubt, dass bei den beiden bald die Hochzeitsglocken läuten werden, währen die gute Witwe nicht einmal merkt, worauf Slope mit seinen Intrigen und Zwischenträgereien hinaus will), ist aber definitiv unglaubwürdig bei einer Frau, die die 20 schon überschritten hat, die schon einmal verheiratet war und ein Kind hat. Diese Intrige ist unglaubwürdig und wird vom Autor auch viel zu breit ausgewalzt. Hier hätte Trollope straffen müssen.
Ansonsten ein ausgezeichneter Roman, vor allem, was seine Meta-Ebenen betrifft. Trollope spielt gekonnt mit klassischen Erzähltraditionen, indem er auch mal aus der auktorialen Erzählhaltung heraustritt und den Leser direkt anspricht. Sei es, dass er diesen (d.h., vor allem die Leserin) dahingehend beruhigt, dass die gute Witwe sicher keinen ihrer eigennützigen Werber berücksichtigen werde, ja, man getrost zum Ende des Romans vorblättern dürfe und dennoch nichts von der Spannung verliere (was in meinen Augen tatsächlich ein Merkmal des wirklich guten Romans ist und – nebenbei gesagt – auch bei Barchester Towers zutrifft); sei es, dass der Autor uns versichert, dass der junge Kaplan Slope ein direkter Nachkomme des Arztes Slop aus Laurence Sternes Tristram Shandy ist, also vorgibt, die Fiktion als Realität zu legitimieren, indem er sie mit einer andern Fiktion verknüpft; sei es, dass er seiner Abneigung gegen die eigene Figur des Mr Slope derart freien Lauf lässt, dass er versichert, selber in den Genuss von dessen feucht-kaltem Händedruck gelangt zu sein, und diesen Händedruck eben gar nicht gemocht zu haben. Für solche Dinge verzeihe ich ihm die Längen und Unwahrscheinlichkeiten rund um die Witwe Bold.