Christopher Clark: Die Schlafwandler

Christopher Clark (Australier) analysiert in diesem umfangreichen Werk den Weg in die “Urkatastrophe” des 20. Jahrhunderts (der Titel des Werkes ist von Hermann Broch entlehnt, obschon nirgendwo darauf hingewiesen wird: Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass dies Zufall gewesen sein sollte, weil Broch diesen Titel bei seiner Romantrilogie im gleichen Sinne wie Clark verwendet hat). Und Clark befindet sich mit seinem Werk in massivem Widerspruch zur in Deutschland lange Zeit gängigen Interpretation der alleinigen Kriegsschuld des auf Imperialismus und Militarismus ausgerichteten Deutschen Reiches. Diese These geht auf Fritz Fischer zurück, der in den 60iger Jahren des vorigen Jahrhunderts mehrere Studien zu diesem Thema (die erste war “Griff nach der Weltmacht” von 1961) veröffentlicht hat. Wenngleich es gegen diese Interpretation auch Einwände gegeben hat (aus der die sogenannte Fischer-Kontroverse hervorging) wurde das Geschichtsbild Fischers allgemein akzeptiert. (Dieses Geschichtsbild hat nach meinem Dafürhalten mehr mit dem Zweiten denn mit dem Ersten Weltkrieg zu tun: Eine differenziertere Betrachtung wäre wohl unter den Verdacht geraten, auch für das Hitlerregime eine ähnliche Entschuldigungsstrategie zu verfolgen. Dies galt es zu vermeiden.)

Clark kommt in seinem Buch zu einem anderen, differenzierten Urteil: Von einer Hauptkriegsschuld Deutschlands kann keineswegs gesprochen werden, vielmehr beruhten die Einschätzungen aller politischen Entscheidungsträger (in Österreich, Frankreich, England, Russland, Serbien und Deutschland) auf Fehlinformationen, Fehlinterpretationen, die in einem gegenseitig sich verstärkenden Effekt schließlich zur Katastrophe führten. Überhaupt ist es dem Autor weniger um das “warum” zu tun, mehr um das “wie”, obwohl ich befürchte, dass sich diese beiden Fragen nicht ganz so gut trennen lassen, wie Clark sich das wünscht. Clark weist immer wieder darauf hin, dass der tatsächliche Wissensstand weniger durch die Tatsachen, denn durch Befürchtungen, Ängste, Vorurteile genährt wurde und sich so im Laufe der Zeit in allen Lagern ein feststehender Fundus vorgefasster Meinungen gebildet hatte, der in Krisensituationen die Entscheidungen beeinflusst und gesteuert hat, ohne dass “objektive” Gründe für diese Haltungen vorgelegen wären.

Und dies gilt für alle Beteiligten: Deutschland mit der Befürchtung, durch die von Frankreich finanzierte Aufrüstung Russlands in einen nicht zu gewinnenden Zwei-Froten-Krieg verwickelt zu werden, außerdem mit dem – teilweise berechtigten Eindruck – von Frankreich und England als ein “global Player” nicht ernst genommen zu werden – besser: Dem Deutschen Reich wurden mit dem Hinweis auf gewachsene Strukturen vor allem in der Kolonialpolitik jene Rechte abgesprochen, die die beiden anderen Staaten als selbstverständlich für sich beanspruchten. Die Nachsicht, mit der der NS-Staat 25 Jahre später behandelt wurde (etwa beim Münchener Abkommen) wäre gegenüber dem Deutschland Bethmann-Hollwegs sinnvoller gewesen und hätte einen Krieg möglicherweise verhindern können.

Frankreich – nicht weniger nationalistisch eingestellt als Deutschland – fühlte sich durch seinen nach 1870 geeinten Nachbar bedroht und suchte das Bündnis mit Russland, um ein Gegengewicht zu schaffen; Russlands nationalistische Parteien und Strömungen sehnten sich nach dem desaströsen Krieg mit Japan (1905) nach einem Erfolg, man stilisierte sich – weniger aus Überzeugung denn aus taktischen Gründen – zum Beschützer aller slawischen Völker am Balkan hoch (wie stark dies von rein strategischen Überlegungen abhängig war, zeigen die ständig wechselnden Koalitionen sowie die Tatsache, dass man sich im Zweifelsfall auch mit den nichtslawischen Rumänen gegen die Bulgaren verbündete). Sowohl in Frankreich als auch in Russland hatten die nationalistisch-militaristischen Kreise großen Einfluss auf die Politik (nicht minder stark als in Deutschland), allüberall unterstellte man dem Gegenüber verstärkte Aufrüstung und sah sich unter dem Zwang, darauf reagieren zu müssen. England sah mit Skepsis den Flottenbau in Deutschland (obschon dieser niemals die Bedeutung hatte, die ihm in der Geschichtsschreibung oftmals zugestanden wurde), betrachtete Russland als den stärksten Konkurrenten in Asien, versuchte mit ihm zu einem Abkommen zu gelangen, was wieder die Deutschen, die durch Spionage davon erfahren hatten, beunruhigte. (Zusätzlich beunruhigend war die Tatsache, dass von diesem Wissen der Deutschen die Engländer nicht wussten und dementsprechende Verhandlungen bestritten.)

Österreich, das mit Conrad von Hötzendorf einen unermüdlichen Kriegstreiber in der militärischen Führung hatte, wollte seinen Anteil am zerfallenden, osmanischen Reich und fürchtete ein erstarktes Serbien. Und es war – wie Deutschland – bis zum Schluss der Ansicht, dass Russland sich nicht wirklich wegen Serbien zu einem Krieg entschließen würde, hatte es doch schon ein paar Jahre zuvor auf Druck der k.u.k. Monarchie einer Autonomie Albaniens zugestimmt (und dadurch Serbien den erwünschten Zugang zum Mittelmeer verwehrt). Entscheidend aber waren die – oft von den Regierungen lancierten – Fehleinschätzungen der Absichten der Gegner: Alle sahen sich bloß als Re-Agierende, die durch den Zwang der äußeren Verhältnisse zu bestimmten Maßnahmen greifen mussten, was dann erneute Re-Aktionen nach sich zog.

Und es kam eine völlige Fehleinschätzung in Bezug auf Ausmaß und Dauer des Krieges hinzu: Alle Beteiligten waren überzeugt, dass der Waffengang nach wenigen Monaten ein Ende gefunden haben würde, niemand (der sich zum Krieg entschließenden Parteien) rechnete mit einer mehrjährigen Dauer. Allerdings war auch die Grundhaltung der Gesellschaft zu kriegerischen Auseinandersetzungen eine völlig andere: Krieg war ein tatsächlich legitimes Mittel zur Fortsetzung der Politik und nicht in dem Maße geächtet, wie er es heute ist. (Obschon ich befürchte, dass diese zivilisatorische Decke dünner ist als allgemein angenommen: Die Bereitschaft zu solchen Auseinandersetzungen ist latent auch in der Gegenwart vorhanden.) Allerdings war die allgemeine Kriegsbegeisterung auch 1914 weniger groß als allgemein kolportiert: Einigen Freudenkundgebungen in den Städten stand die Verzweiflung der Landbevölkerung, insbesondere der Frauen gegenüber. Dort war von Euphorie kaum etwas zu spüren.

Das Buch endet mit Kriegsausbruch, es behandelt also ausschließlich den Weg in den Krieg. Clark ist nicht nur ein penibler Historiker, sondern versteht auch anschaulich und mit viel Empathie die Ereignisse zu schildern, sodass der Leser sich immer wieder bei dem absurden Gedanken ertappt, dass all die diplomatischen Verwicklungen doch noch zu einem guten Ende führen könnten. Sowohl in sprachlicher als auch historischer Hinsicht ist dieses Buch das beste, das ich je über dieses Thema gelesen habe: Es verfällt nirgendwo obskurer Spekulationen, die Ausführungen sind plausibel und durch umfangreiches Quellenmaterial belegt. Ein wunderbar lesbares Geschichtswerk mit hohem Anspruch – eine unbedingte Empfehlung.

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