Amand von Schweiger-Lerchenfeld: Das Eiserne Jahrhundert

Nostalgie, pure Nostalgie… Jedenfalls für mich, und ganz sicher auf den ersten 425 von fast 800 Seiten.

Ich erkläre mich.

Schon beim Öffnen des Buchs überkam mich das Gefühl eines Déjà-Vu. Die gebrochene Schriftart1) trug dazu bei, vor allem aber die 200 Original⸗Illustrationen in Holzschnitt, 20 colorierte[n] Karten und 7 Pläne[n] im Texte. Das erinnerte mich alles an ‘meinen Meyer’. Ich muss 8 oder 9 Jahre alt gewesen sein, als ein angeheirateter Onkel, der damit nichts anfangen konnte, mir seine ererbten Bände der 5. Auflage von Meyers Konversations-Lexikon schenkte. Wie oft hatte ich dann nicht darin geblättert, die Illustrationen bestaunt, den einen oder andern Artikel gelesen2)! Und hier nun nicht alleine die Schriftart wieder, auch die Illstrationen, die ausklappbaren Karten – und, vor allem: dieselbe Begeisterung an der Technik, derselbe absolute Glaube an den Fortschritt und daran, dass man in der besten aller möglichen Zeiten lebe. (‘Der Meyer’ steht noch heute bei mir im Regal; für Auskünfte über mythologische Figuren u.ä. ist er nach wie vor unübertroffen in punkto Ausführlichkeit und Präzision.)

Doch meine nostalgischen Gefühle wurden noch viel mehr gefördert bei der Lektüre. Rund die Hälfte des Eisernen Jahrhunderts ist der Bahn gewidmet. Amand von Schweiger-Lerchenfeld liefert eine kurze Geschichte der Entwicklung der Dampflokomotive und der Eisenbahn. Nach der Schilderung der Gründerjahre legt er dann das Gewicht auf zwei Punkte: die verschiedenen Alpen-Transversalen, die gebaut wurden, und die Durchquerung des amerikanischen Kontinents in den USA. Pure Nostalgie für den Sohn eines Bähnlers! Da wird der Bau des Gotthard-Tunnels geschildert, was für mich gleich zweifache Nostalgie ist. Zum einen lag während Jahren bei uns zu Hause ein kleines Büchlein herum, ein (zumindest semi-offizielles) Dokument über den Bau und den Betrieb der Gotthard-Bahn, erschienen zum 100-jährigen Jubiläum des Tunnel-Durchstichs. Die Namen der grossen Dampflokomotiv-Hersteller jener Zeiten, wie Mafei, die auch von Schweiger-Lerchenfeld erwähnt werden, rangen schon in den Ohren des Kindes, als ich diese Festschrift verschlang. (Die übrigens auch voller witziger Anekdoten war, v.a. aus dem Betrieb der Bahn. Das Büchlein habe ich leider nach dem Tod meines Vaters nicht mehr gefunden…) Andererseits bin auch ich natürlich auf einer Schulreise ins Tessin mit der Gotthard-Bahn gefahren, und der Lehrer hat uns voller Stolz das Phänomen des Kirchleins von Wasen gezeigt, das man auf der Reise einmal von unten, einmal auf gleicher Höhe, und schliesslich noch einmal von oben sieht – immer jeweils, nachdem man längere Zeit in einem sogenannten ‘Kehrtunnel’ verbracht hat. (Natürlich hat auch unser Lehrer einen Wanderschuh ans Gepäcknetz geknüpft, um zu demonstrieren, wie sich der Zug in der Kurve des Tunnels neigt, was man ja mit blossem Auge sonst nicht sehen konnte.)

Noch vor dem Gotthard-Tunnel kommen bei von Schweiger-Lerchenfeld, einem österreichischen Adligen, allerdings die Alpen-Transversalen Österreichs, und da steht dann der Brenner im Mittelpunkt. Ich habe als Student eine Zeitlang in Wien gewohnt und in Graz Vorlesungen besucht. Ich kenne also nicht nur den Südbahnhof recht gut, ich habe auch den Brenner zu diversen Malen überquert. Und ich muss gestehen: Obwohl ich ja den Gotthard bereits kannte, haben mich die Kunstbauten des Brenner (auf die auch von Schweiger-Lerchenfeld grossen Wert legt) ungeheuer beeindruckt. Nach meiner Lektüre begreife ich jetzt die merkwürdige Situation und Stimmung am Bahnhof Mürzzuschlag ein bisschen besser, einem Bahnhof, der bereits vor der Brennerbahn existierte und nachmals gewissermassen der Endpunkt dieses ehrgeizigen Projekts war (der Anfangspunkt war Gloggnitz).

Last but not least: die US-amerikanischen Eisenbahnen – auch hier noch einmal nostalgische Gefühle. Ich gebe es zu: Auch in unserer Familie stand jahrelang eine dieser wunderbar kitschigen Lampen auf dem TV-Gerät, das ja damals noch ein recht dickes Möbel war. Unsere Lampe hatte eine US-amerikanische Dampflok als Motiv, die, wenn sich die elektrische Birne innen genügend erhitzt hatte, durch einen sich drehenden Innen-Schirm zu fahren schien. Nicht zu vergessen des auch früh gelesenen Jules Verne mit seinen 80 Tagen um die Welt, wo die US-Bahnen ebenfalls eine Rolle spielen. Im Eisernen Jahrhundert findet sich das Bild einer Innenansicht eines Salon-Wagens dieser Bahnen – genau so hatte ich mir das als Kind auch vorgestellt bei Jules Verne! (Bilde ich mir jedenfalls heute ein…)

Der nicht die Eisenbahn betreffende Rest des Buchs birgt für mich weniger nostalgisches Potential. Die Schifffahrt ist für mich als Binnenländer auf ein paar kleine Dampferchen auf unsern Seen beschränkt – diese Dampferchen behandelt aber von Schweiger-Lerchenfeld so wenig wie Mark Twains Mississippi-Dampfer. Die grossen Dampfer auf dem Meer lassen mich wiederum kalt – die danach behandelten Kriegsschiffe sowieso. Dasselbe gilt für die Telegrafenleitungen, auch interkontinental. Die Flugtechnik wird ebenfalls behandelt, aber dieses Kapitel ist allenfalls um seiner Kuriosität lesbar für einen, der nicht spezifisches Interesse an der Geschichte der Luftfahrt hat. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buchs, 1884, war die Entwicklung von Fluggeräten ganz einfach noch zu wenig weit gelangt, als dass Amand von Schweiger-Lerchenfeld etwas Gescheites hätte beibringen können. (Immerhin aber tat er die damaligen Versuche des Menschen, sich in die Luft zu erheben, nicht einfach als Spinnerei ab.)

Erst das Schlusskapitel Eisen und Kohle vermochte wieder Erinnerungen und Nostalgie zu wecken. Allerdings handelt es sich hier um viel spätere Erinnerungen. Ich habe zwar nie in der Eisenverhüttung oder Kohlegewinnung gearbeitet, und der von Amand von Schweiger-Lerchenfeld als exemplarisch aufgeführte Krupp ist für mich nur ein Name – aber historischen Resten des Prinzips bin ich noch begegnet, als ich in Baden die ehemalige BBC gesehen habe. Ich habe noch erlebt, wie die letzten Personalhäuser dem Erdboden gleich gemacht wurden, die die Patrons Brown und Boveri genau so auf dem Firmengelände für ihre Leute gebaut hatten, wie der Patron Krupp das bei sich tat. Dieser sich um alle Einzelheiten des Lebens seiner Angestellten kümmernde Patron, der Unterkunft, Schule, Einkaufsmöglichkeiten etc. in unmittelbarer Nähe des Arbeitsortes hin- und zur Verfügung stellte – es gibt diese Firmenkultur heute nicht mehr. (Man hat übrigens, meiner Meinung nach, an die Stelle jener Personalhäuser der BBC nichts Gescheiteres hingestellt…)

Amand von Schweiger-Lerchenfelds Prognosen über die weitere Verwendung der Dampfkraft sind alle, alle – nicht eingetroffen. Dass die dampfbetriebene Bahn über Jahrhunderte die Entwicklung der USA prägen sollte… Das Kind des 19. Jahrhunderts, das Amand von Schweiger-Lerchenfeld war, sah die aufkeimende Entwicklung des Otto-Motors nicht, obwohl die ziemlich genau zu der Zeit stattfand, als der Österreicher noch das Hohelied der Dampfmaschine sang. Dass der Otto-Motor zu einem Aufschwung des Individualverkehrs, zum Bau eines ausgedehnten Highway-Netzes und somit letztlich zum wirtschaftlichen Kollaps der transkontinentalen US-Bahnen (auch wenn sie nun mit riesigen Diesel-Loks fuhren!) führen würde, konnte er nicht einmal ahnen.

Alles in allem kann ich dem Buch gegenüber nicht objektiv sein. Amand von Schweiger-Lerchenfeld (1846-1910) war zu seiner Zeit ein recht bekannter Reiseschriftsteller. Entsprechend interessant und interessierend vermag er zu schreiben. Ob man allerdings ohne nostalgische Gefühle irgendeiner Art dem Buch etwas abzugewinnen vermag, bezweifle ich. Vor mir liegt ein limitierter Reprint des Verlags Fines Mundi aus dem Jahr 2011, dieses Jahr bestellt und erhalten. Mein Exemplar trägt die Nummer 007…


1) Das ist “alte deutsche Schrift”, die ja bekanntlich weder “alt” ist (“Antiqua” ist älter) noch per se “deutsch”. Besser ist schon der Begriff “Fraktur”, wobei “Fraktur” nur eine der vielen existierenden gebrochenen Schriftarten ist. Ich bin kein Spezialist in (gebrochenen) Schriftarten, glaube aber, dass es sich im vorliegenden Fall tatsächlich um “Fraktur” handeln könnte, die typischen Elefantenrüsselchen sind jedenfalls da.

2) Doch, doch, ich konnte damals schon Fraktur lesen. Eine Tante (eben die, die nachmals jenen Onkel heiratete) hat mir schon früh, ich war etwa 3 oder4, das Lesen beigebracht – Antiqua, natürlich. Später habe ich aber die erste Klasse in einem kleinen, armen und rückständigen Bauernkaff absolviert, wo die Lehrmittel mindestens 50 Jahre alt gewesen sein müssen, und wo man uns das Schreiben und Lesen noch mit Setzkästen beibrachte, deren Buchstaben alle in gebrochener Schrift waren.

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