= Dante Alighieri: Philosophische Werke. Herausgegeben unter der Leitung von Ruedi Imbach. Band 1. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1993. (Philosophische Bibliothek, Band 463.)
Dante Alighieri, den man im deutschen Sprachraum etwas unverschämt nur bei seinem Vornamen Dante zu rufen pflegt, ist so etwas wie der Gründervater der italienischen Literatur. Mit seiner Commedia (erst frühe Fans haben ihr das Beiwort Divina – göttlich – verpasst) hat er die italienische Sprache in eine Literatursprache verwandelt und gleichzeitig in ganz Europa die Literatur aus den Fesseln des Latein gelöst. Dass Dante dabei keineswegs unüberlegt und hastig vorging, beweist der vorliegende Text.
Das Schreiben ist sehr kurz – 15 grosszügige Druckseiten im lateinischen Original. Es ist aber in sich so vertrackt, dass mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar dieser Band der Philosophischen Bibliothek rund 250 Seiten umfasst. Beim Aufbau seines Schreibens folgt Dante ganz den mittelalterlichen Gepflogenheiten, die für jede Textsort eine bestimmte Abfolge von Untertextsorten vorsah. Allerdings bricht Dante dann das Schema auch schon wieder, indem er sozusagen zwei Textsorten ineinander wickelt: Im Rahmen der Textsorte epistola (Brief) schiebt er an Stelle einer gewöhnlichen Untertextsorte eine ganze, andere Textsorte ein, die lectio (Vorlesung). Dass er sich letzteres überhaupt traut, es tut und es kann, zeigt auf, dass Dante wohl nicht zu Unrecht als „Magister“ angeredet wurde von seinen frühen Fans, also als im Grunde genommen vorlesungsberechtigtes Mitglied einer mittelalterlichen Universität.
Thematisch verfolgt Dante mit seinen beiden Textsorten zwei Ziele. In Textsorte 1, dem Brief, geht es primär darum, sich der Freundschaft und Unterstützung des Cangrande della Scala zu versichern. Bei Cangrande della Scala (1291-1329) handelt es sich um einen Veroneser Fürsten, einen der vielen lokalen und regionalen Politiker Oberitaliens. Wie bei manch anderem ähnlich ambitiösen Zeitgenossen heißt das auch im Fall von Cangrande, daß er vor allem ein Krieger ist, der sein Schickal immer wieder geschickt an überregionale Kräfte zu binden weiß (Einleitung von Thomas Ricklin, S. XXVII). Diesen Fürsten möchte der im Exil lebende Dante Alighieri als Freund und Mäzen gewinnen. Also verbringt Dante den grössten Teil seiner epistola damit – die ethische Dimension von ‚Freundschaft‘ auszuloten, der Frage nachzugehen, ob es sein kann, dass ein niedergestellter Mensch mit einem hochgestellten überhaupt eine Freundschaft eingehen kann. Natürlich sprich Dante pro domo und bejaht die Frage abschliessend, nicht aber ohne sich philosophisch abgesichert zu haben. Sein philosophischer Gewährsmann ist dabei Aristoteles mit der Nikomachischen Ethik, sekundiert von den beiden grossen Aristoteles-Kommentatoren der Scholastik, Thomas von Aquin und Albertus Magnus.
In bewährt scholastischer Manier sind vor allem diese drei dann auch seine Eideshelfer in der eingeschobenen lectio. Hier legt Dante seinem ‚Freund‘ und Mäzen Cangrande della Scala die Commedia ans Herz, bzw. das gerade begonnene und Cangrande gewidmete Paradiso. Nun ist die ganze Commedia ja in Form einer Vision geschrieben, und Dante ist sich der Gefahren einer solchen Textsorte wohl bewusst. Er verbringt also seine Zeit in der lectio damit, einerseits sich zu rechtfertigen, warum er als Vision ausgibt, was mit nüchternem Kopf und sehr überlegt über den Verlauf mehrerer Jahre geschrieben worden ist, andererseits will er auch nachweisen, dass seine ‚Vision‘ in keinem Punkt irgendeiner mittelalterlich-theologischen Doktrin widerspricht, vor allem, was den von ihm geschilderten Aufbau des Empyreums, des höchsten Teils des Himmels über der Erde, betrifft. Das klingt nach einer sehr konservativen Strategie und ist es wohl auch. Aber Dante kann nicht umhin, die eine oder andere progressive Spitze unterzubringen. So nimmt er implizit bei der Analyse seines eigenen Textes die eigentlich für biblische Texte reservierte Lehre vom Vierfachen Schriftsinn in Anspruch. Klugerweise tönt er aber zwei Schriftsinne nur an, den moralischen als Handlungsanweisung und den anagogischen als Ausdruck der Hoffnung, und legt das Gewicht vor allem darauf, dass das Paradiso allegorisch (und ein bisschen historisch konkret) zu lesen sei.
Dante Alighieri hat mit seinem Schreiben zumindest den in der epistola hinterlegten Zweck erreicht: Nach dem Tod ihres Vaters hat Cangrande della Scala seine beiden Söhne in Ausbildung und Karriere unterstützt. Das von allen drei Teilen der Commedia am stärksten theologisch angelegte Paradiso allerdings ist bis heute ein Stiefkind der volkstümlichen Lektüre geblieben, und ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, dass selbst der Krieger, dem es gewidmet war, viel davon gelesen hat…
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