Heute vor einer Woche starb Pierre Brice. Er wurde in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als Darsteller des Winnetou in den sog. Karl-May-Verfilmungen berühmt. Es ist in allen Nachrufen auf Brice erwähnt worden: Brice kannte Winnetou nicht vorher, und er glaubte auch nicht an einen Erfolg des ersten Films, Der Schatz im Silbersee. Ja, der Erfolg dieses und der folgenden Filme mit und um Winnetou stellte ihn vor ein Problem: Wie der Autor der Bücher, Karl May, sollte auch der Darsteller von dessen beliebtester Figur ausschliesslich im deutschen Sprachraum bekannt werden. Versuche Brice‘, auch in Frankreich und/oder als ernst zu nehmender Schauspieler Fuss zu fassen, scheiterten. In Frankreich standen ihm Alain Delon und Jean-Paul Belmondo vor dem Licht, in Deutschland die absolute Identifikation des Schauspielers mit Winnetou – eine Identifikation, die Brice zuerst wohl Mühe bereitete, mit der er sich dann abfand, ja, die er zum Schluss selber vornahm.
Ich könnte jetzt sagen, dass hier ein Held meiner Jugend verstorben ist. Tatsächlich aber habe ich als Jugendlicher die Filme um Winnetou kaum zur Kenntnis genommen. Als Brice zum ersten Mal diese Figur gab, war ich zu jung, um ins Kino gehen zu dürfen. (Brice hat den Jahrgang meines Vaters.) Persönlich habe ich Karl May etwa genau zu der Zeit zwar zum ersten Mal in Buchform kennen gelernt, aber mein erster ‚May‘ war keine Geschichte aus dem Wilden Westen, sondern der Schluss des Orient-Zyklus – also Der Schut. Bis heute ist mir der May des Orient lieber als der des Okzident. Selbst die bizarren Chinoiserien von Kong-Kheou, das Ehrenwort oder Et in Terra Pax ziehe ich den meisten im Wilden Westen angesiedelten Romanen Mays vor. May, der als Autor von Kolportage-Romanen eine Begabung zum Realisten im Stile Balzacs zeigte, kann sich im Fernen Osten so ganz seinen Phantasien hingeben – er wäre heute wohl ein fruchtbarer Autor von All-Age-Fantasy-Mehrteilern.
Zudem waren meine Eltern mit uns Kindern damals gerade weit draussen in die Provinz gezogen, in ein kleines Kaff, in dem es kein Kino gab. Als wir dann von dort wieder wegzogen, in ein grösseres Kaff, wo tatsächlich ein lokales Kino am andern Ende des Dorfs existierte, und dieses eines Tages tatsächlich einen Winnetou-Film (wie wir der Einfachheit halber alle Filme mit Brice und Barker nannten) vorführte, war ich etwa 14 und meine jugendlich-kindliche Leidenschaft für Karl May am Sinken. Auch später habe ich keinen einzigen Film gesehen, jedenfalls nicht mehr als 5 Minuten davon am Stück. So gehöre ich wohl zu den wenigen meiner Generation, die ihr Bild von Winnetou nicht mit Pierre Brice und ihre Karl-May-Lektüre nicht mit den sog. ‚grünen Bänden‘ verknüpfen, in denen der Karl-May-Verlag bis heute seinen Star-Autor veröffentlicht – Bände mit einem fürchterlich kitschigen Rücken in Gold und Schwarz auf Grün, halb Klassizismus, halb Jugendstil. Mein erster May war nämlich aus der Reihe der sog. ‚Jubiläums-Bände‘, die der Karl-May-Verlag in den 60ern zur Feier des eigenen 50. Geburtstags herausgab.
Dennoch hat sich Brice festgesetzt als eines der Symbole für jene Zeit, als ich noch ein Jüngling war mit lockigem Haar… oder so. Das Ende meiner Kindheit und Jugend war auch das Ende der Winnetou-Filme, und fiel auch so ziemlich genau mit dem Ende des wirtschaftlichen Aufschwungs zusammen, den wir heute den Wiederaufbau nennen. Deshalb ist mir Pierre Brice, ist mir der Film-Winnetou, im Nachhinein bedeutsam geworden. Sie stehen für mich für die Zeit, als Europa sich wieder berappelte, die Länder und ihre Einwohner wieder begannen, über die eigenen Grenzen und Wohnungstüren hinaus zu schauen – und dennoch sich auf sich selbst zurück geworfen fanden. Bis heute kennt man weder Karl May noch Pierre Brice ausserhalb des deutschen Sprachraums, hier aber – und das ist eine ungeheure Ironie der Weltgeschichte – haben wir das Phänomen, dass der deutsche Indianer Winnetou, der edle Wilde κατ‘ ἐξοχήν, seit einem halben Jahrhundert identifiziert wird mit einem französischen Adligen.
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