Isabelle Stengers: Wem dient die Wissenschaft?

Wenn heute von „Mächten“ gesprochen wird, die einer genaueren Defintion ermangeln und auf nicht genau feststellbare Weise auf die Welt einwirken – zumeist in einem systemerhaltenden Sinn – dann vermutet man meistens – zu Recht – einen rechtspopulistischen Hintergrund. Dem war aber nicht immer so: Noch bis vor 20 Jahren (und das vorliegende Buch ist 1998 erschienen) wurde von der links-alternativen Szene ebenso argumentiert: Die Macht, die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft – sie wurden ganz genauso als Ursachen für das Unglück und Elend dieser Welt dinghaft gemacht, wobei schon immer Verschwörungstheorien (alle Mächtigen sind irgendwie untereinander verbunden und verbündet; die Freimaurer sind der Inbegriff einer solchen Gemeinschaft) und geheime Allianzen vermutet wurden. Und so ist es auch nicht überraschend, wenn Stengers im vorliegenden, „wissenschaftskritischen“ (die Anführungszeichen spiegeln meine Unsicherheit bei der Beurteilung wider: Denn so genau konnte ich bis zum Schluss nicht feststellen, welcher Zweck hier verfolgt werden sollte) ständig das Wort „Mächte“ strapaziert, Mächte, die sich auf irgendwie unheilvolle Weise mit der Wissenschaft verbinden (oder zu verbinden suchen) und die einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft höchst abträglich sind.

Wobei sich Stengers auf unterschiedliche Weise davor drückt, ihrer Meinung klaren Ausdruck zu verleihen und diese auch zu belegen: So bedient sie sich der Ironie, indem sie den Prozess der Verwissenschaftlichung überzeichnet und anschließend explizit als Parodie ausweist, ohne aber offen zu sagen, was denn nun an dem skizzierten Verhalten so seltsam ist (darauf wartet man das ganze Buch vergebens); zum anderen wurde für den Text eine essayistische Form gewählt, die auf Fußnoten oder Belege gänzlich verzichtet. Weshalb man allenthalben mit den kuriosesten Behauptungen konfrontiert wird ohne zu erfahren, auf welcher Grundlage derlei Äußerungen fußen. Das Buch wimmelt nur so von Behauptuntungen und Unterstellungen, die mit dogmatischer Selbstherrlichkeit vertreten werden. Und sie stellt offenbar wider besseres Wissen (denn sie gilt – zumindest laut Wikipedia – als Expertin für Wissenschaftsphilosophie) Theorien absichtlich falsch oder verkürzt dar: So wird das Abgrenzungsproblem bei Popper auf eine dümmlich positivistische Weise beschrieben (als ob dieser behauptet hätte, dass mit einer Falsifikation absolute Gewissheit zu erzielen wäre und sich nie mit der ganzen Problematik von Versuchsanordnung, Gültigkeit von Basissätzen etc. auseinandergesetzt hätte).

Bei Stengers stellen sich diese Probleme allerdings höchst kurios und simplifizierend dar: So fragt sie „was tun?“ für den Fall, dass ein Experiment nicht das erwünschte Ergebnis zeitigt. „Soll man das Verdikt der Fakten akzeptieren?“ Ein höchst seltsame Frage (die man ansonsten eher aus dem Trumpschen Umfeld gewohnt ist), die daher rührt, weil sie sich nicht Popper anschließen möchte, der behauptet habe, „dass man von Wissenschaft nur sprechen könne, wenn die Ergebnisse im Labor überprüft werden können oder sich mit leicht reproduzierbaren Phänomenen beschäftigen“. Da Popper Derartiges nie behauptet hat (nachgerade das Gegenteil, weil immer nur von einer denkmöglichen Falsifizierung die Rede ist) unterstelle ich ihr (sie wird die einschlägige Literatur kennen) wohl nicht zu Unrecht eine absichtlich falsche Darstellung (wenn sie nicht so großzügig auf Fußnoten und Belege verzichtet hätte, würde man an solchen Stellen selbstverständlich Verweise erwarten).

Dann „verabschiedet sie sich von der Wissenschaft“, wobei „Objektivität an sich und Neutralität nicht besonders viel erklären, eigentlich gar nichts“. Was sie an die Stelle eines solchen objektiven Bemühens zu setzen gedenkt bleibt unklar, sie stellt nur fest, „dass wir auf keinen Fall gängige, autoritative Argumente akzeptieren sollten“. Was für eine Weisheit, wobei sie mit solchen Aussagen (die über das ganze Buch verteilt sind) immer wieder suggiert, dass „die“ Wissenschaft genau das verlangen würde (oder auch die Wissenschaftstheorie). Ein wenig später verlangt sie von einem wissenschaftlichen Nachweis, dass dieser ein Problem lösen, zumindest interessant sein solle. Und dann folgt die fiktive Frage eines Biologen an einen Chemiker (der den Nachweis erbracht hat): „Gut, vielleicht hast du recht, aber was ändert sich dadurch für mich?“ Und er wird die Antwort mit seinem kritischen Verstand verfolgen „und schon genau wissen, dass es keine Antwort gibt“. Eine derart dümmlich-naive Darstellung erübrigt jeden Kommentar und lässt nur vermuten, dass sie sich (trotz Wikipedia) nie ernsthaft mit wissenschaftstheoretischen Fragen auseinandergesetzt hat*.

Ein weiteres Steckenpferd ist die Vermischung gänzlich unterschiedlicher Wissensgebiete: So macht sie keinen Unterschied zwischen dem „Expertenwissen“ eines von der Regierung bestellten Drogenbeauftragten und physikalischer Grundlagenforschung – dies aber nur deshalb, um die unsichere Wissensbasis des ersteren auf zweiteres ausdehnen zu können. Dabei unterstellt sie (der Macht, der Politik etc.), dass Drogenkonsumenten entweder als krank oder kriminell sich einstufen dürften und dass auf andere Umstände (z. B. Beschaffung von Drogen und die damit verbundene Kriminalität) keinerlei Rücksicht genommen würde. Das alles wird völlig dogmatisch vorgetragen (und man fragt sich zum einen, in welcher abgeschotteten Welt Stengers lebt und zum anderen, woher sie denn diese ihre Weisheiten bezieht?). Dann geht sie über zu den „Wissenschaften und Mächten“ und behauptet, dass in agrarwissenschaftlichen Laboratorien einzig der höhere Ertrag einer Pflanze „bewiesen“ würde, aber „naturgemäß die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten außer Acht gelassen“ würden. Ja, das kommt durchaus vor bei Monsanto, Bayer & Co. (obwohl sie auch hiefür keine Belege anführt, die allerdings zu finden wären), aber die Egoismen von Firmen oder Einzelpersonen haben mit der theoretischen Wissenschaft wenig zu tun: Das sind politische und gesellschaftliche Fragen, wobei das Wissen, solche Auswüchse zu verhindern, ohnehin vorhanden wäre (wiederum aus wissenschaftlichen Untersuchungen). Aber das passt einfach so gut ins simplifizierte Bild: Ausbeutung aller Orten durch wissenschaftliche Laborarbeit.

Dazu kommen seltsame Rundumschläge gegen statistische, computerbasierte Analysen, die sie generell für unsinnig und kontraproduktiv hält (wodurch mittlerweile ein Großteil der Wissenschaft zu Unsinn erklärt würde): „Mittels einer statistischen Untersuchung werden wir nie herausfinden, wie wir einen mit Aids infizierten Menschen behandeln, wie man ihm sein Schicksal erleichtern oder wie man Mittel entwickeln kann, die seine Widerstandsfähigkeit gegenüber der Krankheit steigern.“ Ist der Autorin entgangen, dass sich alle medizinische Forschung solcher Statistiken bedienen muss, dass gerade auch die Sozialwissenschaften ohne vernünftige Datenanalyse nicht auskommen? Ich vermute, dass sie das selbstverständlich weiß, dass sie aber einfach auf die billige Argumentation des „einzelnen“ abzielt, der da ja vielleicht noch immer traurig ist und Schmerzen hat. – Es gäbe noch zahllosen Nonsens aufzuzählen – aber ich habe schon zu viel Zeit beim Lesen des Buches investiert. Vielleicht sollte Stengers sich mehr mit einem anderen sie interessierenden Gebiet beschäftigen: Der Auswirkung der Hypnose auf die Psychotherapie, dort fällt ein bisschen mehr oder weniger Stringenz im Denken nicht ins Gewicht. Im wissenschaftstheoretischen Bereich ist sie jedenfalls fehl am Platz.


*) Sie hat allerdings mit dem Chemiker Ilya Prigogine zusammengearbeitet, ihrem Verständnis für wissenschaftliche Forschung scheint das aber wenig dienlich gewesen zu sein.


Isabelle Stengers: Wem dient die Wissenschaft? München: Gerling Akademie Verlag 1998.

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