Auch wenn Buch IV von Joseph und seine Brüder nunmehr im US-amerikanischen Exil verfasst wurde, darf man getrost feststellen: Thomas Mann hat nichts von seinem Können verloren. Noch immer schreibt er mit demselben ironischen Grundton an Josephs Geschichte, und noch immer bringt er es zustande, dass uns Lesenden der Mund vor Staunen offen bleibt, weil bei jeder erneuten Lektüre Neues ins Auge fällt.
Mir jedenfalls ging es so – und dies schon gleich zu Beginn von Joseph, der Ernährer, wie der letzte Band der Tetralogie heißt. Denn Mann nimmt hier nicht einfach die Geschichte auf und erzählt sie weiter, wie er es bisher gehalten hat. Nein, wir finden zu Beginn eine Vorspiel in den oberen Rängen genannte Einleitung. Darin plaudert ein anonym bleibender Engel ein bisschen aus dem himmlischen Nähkästchen, erzählt in der Ich- bzw. Wir-Form Details und Hintergrunde der Schöpfung, der Sintflut und vor allem berichtet er, wie da einer der ihren, genannt Semael, sich gegen den Herrn empörte und aus den oberen Rängen verwiesen wurde, was die treu gebliebenen Engel dann doch mit Schadenfreude und Genugtuung füllte, denn gar so englisch sind sie halt nicht. Nun geht aber unter den Rängen das Gerücht, dass (natürlich nicht zur Freude der treu Gebliebenen) Semael auf irgendeine Weise doch noch Zutritt hätte zum Herrn und dass die Geschichte mit den verschiedenen Stürzen und Auferstehungen des Joseph von ihm, Semael, inspiriert und arrangiert sei.
Außer dem Umstand, dass Mann hier zum ersten und dann auch einzigen Mal in der Tetralogie die Erzählperspektive wechselt (und dann gleich zu einem Engel!), dass er auch die treuen Engel (anders als zum Beispiel Milton) als nicht gar so englisch schildert – außer alledem also sind in diesem Vorspiel auch über den Text als solchen hinaus weisende Konnotationen zu finden. Allein die Bezeichnung „Vorspiel“ erinnert zum Beispiel an Goethes Faust, dass der dort „Mephistopheles“ geheißene gefallene Engel Zutritt zu Gott hat, finden wir ebenfalls im Faust und natürlich in dessen Vorbild, dem alttestamentarischen Buch Hiob.
Sehr eindeutig auf Goethe – dieses Mal den Menschen – gemünzt sind auch die Bemerkungen zum Aussehen Josephs. Im Lauf der Jahre in Ägypten wird aus dem schlanken Jüngling ein Mann im so genannten besten Alter, nicht gerade dick, aber doch gut im Fleisch. Am Ende des Romans dann, als fünfzig- bis sechzigjähriger Mann, hat Joseph seine Korpulenz wieder verloren und die schlanke Figur der Jugend praktisch wieder gewonnen. Wer würde bei Manns Schilderung nicht an Goethe denken, der in den Gemälden aus seiner besten Manneszeit in Weimar recht beleibt abgebildet ist, als Greis dann aber wieder rank und schlank war? (Während ich die Gleichsetzung vom Ernährer Joseph mit der Figur Roosevelts im New Deal zwar aus der Zeit verstehen kann – Band IV der Tetralogie erschien 1943, als das Andenken an den New Deal von 1933 bis 1938 noch frisch war –, aber im Text wenig in diese Richtung interpretierbare Hinweise finde.)
Last but not least – und worüber ich vielleicht am meisten erstaunt war bei meiner erneuten Lektüre – ist da die Figur des Patriarchen Jaakob. Das ganze dritte Buch der Tetralogie hindurch hat ja Mann nur über Joseph erzählt, nicht über seine Brüder, nicht über seinen Vater. Selbst in Buch IV vergeht noch eine geraume Weile – nämlich bis Joseph tatsächlich als oberster Verwalter des Reichs (oder zumindest der Getreidevorräte) installiert ist –, bis sich der Blick des Erzählers wieder auf Jaakob und die elf bei ihm verbliebenen Söhne, Josephs Brüder, richtet. Jaakob ist unterdessen uralt. Er steht, meint der Erzähler, wohl in seinen späten 90ern, auch wenn er selber sich dann in Ägypten 103 Jahre alt macht. Seine Söhne sind mittlerweile ebenfalls ergraut. Zwar ist Jaakob offenbar immer noch in der Lage, seine Familie mit aller Härte zu leiten und zu führen, aber etwas fällt doch auf: Obwohl sein Jüngster, Benjamin, unterdessen auch die Vierzig überschritten hat, verheiratet ist und selber Vater, hängt Jaakob nach wie vor mit einer Liebe und – ja! – einem Egoismus an ihm wie am Siebenjährigen. Noch immer wird Benjamin in kritischen Situationen an des Vaters Hand gehalten. Natürlich erklärt Thomas Mann damit auch, warum die biblische Geschichte will, dass Josephs Brüder sich zunächst ohne den Jüngsten nach Ägypten aufgemacht hatten. Gleichzeitig aber erleben wir Lesenden, wie der Egoismus und die Eigenliebe, den den jungen Joseph so auszeichneten, nun in seinem alten Vater ebenfalls Überhand nehmen. Es gibt ja welche unter den Lesenden, die den jungen, eitlen und dünkelhaften Joseph am liebsten persönlich in den Brunnen geworfen hätten und es kaum erwarten konnten, bis es dann seine Brüder tun. Aber zumindest hatte dieser junge Joseph noch den ephebenhaften Charme, den so viele Jünglinge bei Thomas Mann aufweisen. Der alte Jaakob ist aber ebenso egoistisch und egozentrisch (womit wir natürlich nun, am Ende der Tetralogie, wissen, von wem Joseph diesen Charakterzug geerbt hat, nämlich nicht von seiner Mutter). Und den können wir nun tatsächlich nicht in einen Brunnen werfen. Anders gesagt: Im Gegensatz zu Joseph, dem sein Wesen seiner Jugend wegen verzeihen konnte, hätte ich dem alten Jaakob am liebsten mehr als einmal einen Tritt in den Allerwertesten gegeben.
Ein cleverer Schachzug des Erzählers Mann, der ja Mühe genug hatte, den letzten Teil der Geschichte Josephs in eine stimmige Story umzuwandeln, ohne den biblischen Grundtext allzu sehr zu verbiegen. (Was man, finde ich, dem vierten Buch auch ein kleinbisschen anmerkt.)
Trotz gewisser, allerdings wirklich nur kleiner Vorbehalte aber eine dicke Leseempfehlung.