Gérard de Nerval: Die Chimären und andere Gedichte

Irgendwie hat es die französische Literatur nicht geschafft, eine eigenständige (und gute, oder mindestens akzeptable!) romantische Bewegung auf die Beine zu stellen. Obwohl der oder die Intellektuelle eine Figur ist, die bis heute nirgends so ausgeprägt existiert wie in Frankreich, fehlte der französischen Romantik schon der theoretisch-poetologisch-philosophische Einstieg, der in Deutschland von Novalis und den beiden Schlegel geliefert wurde. (Vielleicht, weil in Frankreich diese Form von Reflexion bereits von den der Aufklärung zuzurechnenden Enzyklopädisten verwendet worden war.) Es fehlte ihr auch fast völlig die Rückbesinnung auf Traditionen und Überlieferungen, die typisch sind für die zweite Welle der Romanik in Deutschland – Arnim & Brentano, Jacob & Wilhelm Grimm. (Vielleicht, weil in dem zentralisierten Staat, der Frankreich auch nach dem Ende des Absolutismus immer noch war, die Region, die Provinz, eher belächelt als geschätzt und gesucht wurde.) Es fehlte ihr die schwarze, dämonische Ausprägung, die die Romantik in Deutschland vor allem mit E. T. A. Hoffmann genommen hatte, die englische mit Lord Byron. (Die französischen Aufklärer werden wohl damit aufgeräumt haben.) Es fehlte ihr auch die Beziehung zur Natur, die vor allem die englische Romantik auszeichnete. (Wohl, weil der französische Zentralismus auch dazu führte, dass außer Paris nichts auf dieser Welt zählte – in keinem anderen Land war und ist die literarische Szene derart auf (zunächst den Königshof, dann) die Hauptstadt fixiert wie in Frankreich. Französische Literatur ist Großstadt-Literatur der aus der Aufklärung entstandenen Clique von Intellektuellen, mit allen Vor- und Nachteilen dieser Erscheinung.)

Wenn wir uns die Namen anschauen, die da so genannt werden als französische Romantiker, sieht man sofort: Wo die französische Literatur glaubt, romantisch zu werden, wird sie in Tat und Wahrheit nur sentimental und kitschig. Das gilt für die Romane von Chateaubriand (die ihrerseits Goethe abgekupfert sind) wie für die Gedichte von Victor Hugo (der sich auch in seinen Romanen, die in vielem schon dem Realismus zugehören, nicht zurückhalten kann und jede Menge an Sozialkitsch liefert). Kitsch sind auch die historischen Abenteuer-Schinken von Dumas Père. Am ehesten vermag sich dem Kitsch noch Théophile Gautier zu entziehen – aber den kennt heute fast nur noch die Literaturgeschichte.

Es müsste also ein vernichtendes Urteil über die französische Romantik gesprochen werden, wenn – ja, wenn da nicht Gérard Labrunie gewesen wäre, der sich als Schriftsteller (warum auch immer) Gérard de Nerval nannte. Aber selbst Nerval hat sich an der deutschen (und der englischen) Romantik geschult. Zu seinen Vorbildern gehörte Goethe (dessen Faust I er ins Französische übersetzte), gehörten E. T. A. Hoffmann und Lord Byron, gehörte Jean Paul (einen Satz aus dessen nachgerade nihilistischen Blumenstückaus dem Siebenkäs, betitelt Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei, er als Motto für ein eigenes Interludium verwendete). Doch wenn seine romantischen Kollegen unterm Abschreiben ins Epigonal-Kitschige abdrifteten, gelang es Nerval, diese deutschen und englischen Einflüsse mit klassizistischen Elementen der französischen Literatur zu verbinden – und vor allem mit einer ganz eigenen, hermetischen Gedankenwelt. Zu Lebzeiten als minderer Romantiker betrachtet, stieg im Lauf der Jahre sein Ruhm und sein Einfluss auf die französische wie die deutsche Literatur. Baudelaire ging bei ihm zur Schule und auch der völlig anders geartete Proust. Breton betrachtete ihn als Vorläufer des Surrealismus (aber das tat er mit jedem extravaganten Werk / Autor des 19. Jahrhunderts). Im deutschen Sprachraum wäre wohl Stefan George zu nennen.

„Hermetisch“ habe ich gesagt, sei Nervals Gedankenwelt, sei seine Lyrik. Das drückt sich vor allem darin aus, dass er persönliche wie überlieferte Assoziationen zu verwendeten Begriffen in eine fast unzertrennliche Einheit verschmilzt. Ein Frauenname kann zwei, drei seiner (meist platonischen) Geliebten umfassen, eine historische Königin, eine Heilige und eine mythologische Gestalt. Ähnliches gilt für geografische Bezeichnungen, ja sogar für das lyrische Ich. Seine Themen wiederum umfassen vor allem die Liebe, auch den Tod und die Vergänglichkeit. Handkehrum kann er aber in Inhalt und Ton über die Produktion von Gedichten (in einem Gedicht!) satirisch herziehen.

Fazit: Eine Lektüre, in der man lange verweilen kann, so man will. Und ein Autor, den näher kennen zu lernen sich lohnt.


Gérard de Nerval: Die Chimären und andere Gedichte. Französisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Krüger. Stuttgart: Verlag freies Geistesleben, 2008.

[Ein paar Bemerkungen zu dieser Ausgabe. Ich habe erst unter der Lektüre der Anmerkungen realisiert, dass der Verlag freies Geistesleben im Dunstkreis der Anthroposophie beheimatet ist. Dafür kann man Nerval ja auch nicht verantwortlich machen. Die Übersetzungen sind, wo ich sie nachgeprüft habe, in Ordnung. Bei den Wort- und Sacherklärungen allerdings muss man sich in Acht nehmen: Allzu oft wird versucht, Nerval (und Goethe!) in den Nebel anthroposophischer Gedankenwelt zu ziehen. Der Hermetiker Nerval ist so wenig Anthroposoph wie der bekannteste deutsche Hermetiker, Hamann. Beide kreieren ihre eigene Welt, in beiden Fällen hat diese Welt mit Rudolf Steiner nichts zu tun.]

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