Fénelon: Les Aventures de Télémaque [Die Abenteuer des Telemach]

Frauen in antikisierenden griechischen Gewändern mit Fackeln in den Händen auf der linken Seite haben offenbar ein antikes griechisches Schiff angezündet, das die rechte Bildhälfte einnimmt. Im Hintergrund das blaue Meer. Ausschnitt aus einer als Titelbild verwendeten Illustration des "Télémaque" von 1825.

François de Salignac de La Mothe-Fénelon (1651-1715) – im Französischen meist kurz als Fénelon bezeichnet, im Deutschen als François Fénelon geführt (was ungefähr so ist, wie wenn wir den herzoglichen Freund Goethes, Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, einfach ‚Carl Eisenach‘ rufen würden – Fénelon also stammte aus der weit verzweigten und einflussreichen Familie de Salignac. Nach dem Tod seines Vaters kam er unter die Obhut eines Onkels und wurde früh zum geistlichen Stand bestimmt – offenbar keineswegs gegen seinen Willen. Eigene Tätigkeit und Familienverbindungen brachten es schließlich dahin, dass er als Précepteur (Prinzenerzieher) des Duc de Bourgogne angestellt wurde, des Petit Dauphin, wie man Louis de France oft nannte, um ihn von seinem Vater, dem Grand Dauphin zu unterscheiden, der als Dauphin gestorben war und seinem Vater, also Louis XIV, nicht auf den Thron folgen konnte – genau so wenig wie sein Sohn übrigens, der ebenfalls vor dem Großvater starb; so konnte erst der Urenkel (im Alter von fünf Jahren!) als Louis XV den Thron besteigen und eine Möbellinie kreieren.

Man würde heute wohl nicht mehr über Fénelon sprechen (um so mehr, als er schon zu Lebzeiten des Duc de Bourgogne am Hof kalt gestellt und als Erzbischof von Cambrai weg befördert worden war), wenn es nicht die Abenteuer des Telemach gäbe, die er ursprünglich in seiner Funktion als Prinzenerzieher geschrieben hatte, ein belletristisch-pädagogisches Hilfsmittel, um dem Petit Dauphin seine Aufgaben auf nette Art und Weise zu erklären. 1699 veröffentlichte er den Text, der dann bis 1916 immer wieder Neuauflagen erlebte. Fénelon war mehr als zwei Jahrhunderte lang nicht nur unter Literaten ein Haushaltname. 1920 erschien eine wissenschaftlich fundierte Ausgabe dieses Buch, aber zu diesem Zeitpunkt war es mit Fénelons Ruhm bereits vorbei. Sein Telemach galt plötzlich als veraltet und schwierig zu lesen. Dieser dem Text vorausgehende Ruf hat auch mich lange von einer Lektüre abgehalten.

Jetzt habe ich mich doch daran gewagt und siehe da – ich habe es nicht bereut. Zugegeben – und das wird heute wohl auch in Frankreich ein Problem sein –: Die Lektüre wirklich geniessen kann nur, wer Homers Odyssee, Vergils Aeneis und Ovids Metamorphosen ein bisschen kennt. Der Roman erzählt die Abenteuer des Telemach, Sohn des Odysseus, auf der Suche nach seinem verschollenen Vater und schließt explizit an das vierte Buch der Odyssee an. Telemach macht zusammen mit seinem Mentor (der praktischerweise Mentor heißt!) eine ähnliche Odyssee durchs Mittelmeer wie sein Vater – nur dass er eben den alten Mentor bei sich hat, hinter dem sich die Göttin der Weisheit, Minerva, verbirgt. Mentor lehrt ihn bei jedem Ereignis die Moral von der Geschichte. (Selbstverständlich ist dieser Mentor das Sprachrohr Fénelons, der seinem prinzlichen Zögling das richtige Verhalten eines Monarchen beibringen will.) Das mag manchmal langweilen, wirkt aber unterdessen so altbacken und zopfig, dass es auf seine Weise schon wieder zu interessieren vermag. Die hin und wieder sich einfindenden Anachronismen in Personen und Handlung hingegen sind vom Autor absichtlich eingestreut worde.

Einzig, wo Mentor, in Abwesenheit des Telemach, der gerade im Krieg ist (denn Kämpfe, Schlachten und weit umher spritzendes, schwarzes(!) Blut gibt es durchaus in diesem Roman, und sie sind so gut beschrieben wie die Homers), einzig wo Mentor also in Salent, beim König Idomeneus (ja, der, über den auch Mozart eine Oper geschrieben hat, auch wenn ohne Bezug zu Fénelon), den idealen Staat einrichtet, wird die Geschichte übel. Es sind die seit den alten Griechen auftauchenden, eigentlich ja gut gemeinten, letzten Endes aber eine statische Diktatur einführenden Mittel zur Besserung von Staat und Einwohnern, die Mentor zur Anwendung bringt: Abschaffung von praktisch allem Luxus im Staat (Gold, Silber, Seide, Wein, ansehnliche Gebäude), einfache Kleidung, die für alle gleich aussieht, einfache Nahrung etc. – Dinge, die schon Platon in seinem Staat propagierte und die auf eine Diktatur im nordkoreanischen Stil herauslaufen. Die durch diese Änderungen überflüssig gewordenen Luxus-Handwerker werden aufs Land transferiert, wo man ihnen eine Acker-Parzelle zur Verfügung stellt, die sie bearbeiten sollen, um sich und den ihren den Lebensunterhalt von der Scholle zu gewinnen. Ob sie dafür geeignet sind, interessiert Mentor so wenig wie es die kommunistische chinesische Regierung interessiert hatte, als sie die Studierenden aufs Land schickte. (Fénelon zeigt sich mit seiner Wertschätzung der Landwirtschaft als Frühaufklärer und Physiokrat der ersten Stunde – wobei zu sagen ist, dass im damaligen Frankreich der Bauernstand tatsächlich mit Steuern ausgeblutet wurde; rund 100 Jahre nach dem Erscheinen des Telemach würde sich zeigen, wie gefährlich das für Staat und König war.)

Bunte und pralle Abenteuer, ein bisschen Belehrung und sogar ein bisschen Liebe – Fénelon beweist sich hier als Meister der Jugendliteratur. (In Bezug auf Spannung zum Beispiel sowie Tempo der Geschichte übertrifft sein Telemach locker den Robinson Crusoe (der allerdings fälschlich zur Jugendliteratur gezählt wird, und Winnetou trieft viel stärker von süßlich-kitschigen Moralpredigten – ja, gerade in Bezug auf christliche Aussagen hält sich Fénelon sehr zurück, allenfalls indirekt können gewisse Schilderungen aus dem Olymp mit christlich-theologischen Parallelen versehen werden.

Last but not least ist seine Schilderung eines schlechten Regenten, der von Günstlingen und Buhlerinnen gelenkt wird, beste Satire. Louis XIV hat das erkannt und Fénelon aus Paris verbannt.


Gelesen in folgender Version:

Fénelon: Les Aventures de Télémaque. Édition présentée, établie et annotée par Jacques Le Brun. Paris: Gallimard, 2022 (erste Auflage in dieser Version 1995). (= folio classique 2689) [Auf Deutsch sind wohl die letzten Gesamtübersetzungen des Textes noch im 19. Jahrhundert erschienen, darunter eine von Friedrich Rückert.]

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